Kapitel 18.

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"Du bist eiskalt. Wir sollten dich schnell ins Warme bringen."

Ich antworte nicht, stattdessen verlässt ein heftiges Husten meinen Mund und ich schnappe keuchend nach Luft. Der Griff des Polizisten lockert sich langsam und er  schiebt mich ein Stück von sich weg, ohne mich jedoch loszulassen. Seine hellen Augen taxieren mich, dann zuckt seine Hand nach vorne und er berührt vorsichtig mein wundes Gesicht. Ich verziehe schwach den Mund und weiche etwas zu Seite aus, doch der Beamte hält mich immer noch nachdrücklich fest.

"Kannst du laufen, Andreas?", fragt er ruhig, während er mich nachdenklich mustert. Kraftlos zucke ich mit den Schultern.

"Wir versuchen es, okay?"

Er packt mich unter der unverletzten Schulter, sorgsam darauf bedacht den schmerzenden Arm nicht zu berühren, umschlingt er meinen Oberkörper. Ich komme wankend auf die Beine. Sie fühlen sich taub an, zittern und ich spüre wie sie unter mir nachgeben. Aber der Polizist hält meinen Körper oben, drückt mich gegen sich und bahnt sich vorsichtig einen Weg durchs Dickicht. Ich lasse mich stumm mitschleifen.

Der Schnee lässt alles wie in einem Film wirken, überlichtet, hell, kalt, klar. Ein weiterer, blauuniformierter Mann hebt sich stark von der weissen Masse ab. Mit einem hastigen Schritt kommt er auf uns zu, mustert mich mit gerunzelter Stirn. Ich fühle mich plötzlich ausgeliefert, so, als ob ich völlig schutzlos und nackt wäre, das drängende Verlangen mich zu verstecken packt mich. Ich will hier nicht sein, ich will nirgendwo sein, gar nichts mehr sein.

Ich nutze den Moment, in dem der blonde Polizist seinen Griff lockert, befreie mich hektisch und werfe mich nach vorne. Meine Beine zittern, die Luft scheint zu flimmern, der Boden kippt und ich mit ihm. Dann spüre etwas Hartes in meinem Rücken, raue Rinde berührt meine Finger und alle Luft scheint aus meinen Lungen zu weichen. Japsend schnappe ich nach Luft und gebe nach. Doch der Boden kommt nicht näher.

Zwei Arme fixieren meinen Oberkörper und die beiden Polizisten, die mich nach hinten drücken betrachten mich sorgfältig, während ich den Kopf gegen den Baum in meinem Rücken lehne. Wieder trifft mein Blick den des blonden Polizisten, Aaron, der mein Gesicht nachdenklich mustert.

"Ist das dein Blut?", fragt er mit gerunzelten Augenbrauen, während sein Finger vorsichtig über meine Wange fährt.

"Nein." Ich schliesse die Augen.

Nein. Es ist Mamas Blut. Und Mama ist tot, für immer. 

"Wessen Blut ist es?" 

"Mamas.", flüstere ich ohne nachzudenken.

"Andreas, wo ist deine Mutter?", fragt der dunkelhaarige Polizist neben ihm nachdrücklich.

"Sie...ist tot."

"Andreas, wo ist sie?"

Ich schüttle nur den Kopf. Die Tränen bahnen sich ihren Weg und ich schluchze leise auf.

"Andreas!" Der Polizist schüttelt mich leicht, seine Hand greift unter mein Kinn und zwingt mich ihn anzusehen.

"Wo ist sie?"

"...Polizei...ist da...", murmle ich und spüre, wie ein unendliche Müdigkeit über mich hereinbricht.

"Er ist stark unterkühlt und ich glaube der Arm ist gebrochen. Bestellst du n'RTW oder fahren wir gleich in die Klinik?", wendet sich der Blonde an seinen Kollegen, drückt mich jedoch weiterhin gegen den Baum.

"Klinik, geht schneller."

"Mmh. Andreas, wenn ich dich jetzt loslasse, versuch bitte nicht wegzulaufen, okay? Wir wollen dir helfen.", wendet sich der Polizist mir wieder zu.

Vorsichtig zieht er seine Arme zurück, hält mich aber immer noch an der Schulter fest und verhindert durch einen raschen Griff um meine Taille, dass ich zu Boden falle. Im festen Griff der beiden Beamten stolpere ich durch den Schnee, schliesse erschöpft die Augen. 

Aber dann sehe ich Leichen, immer und immer wieder.

Drei Tote an einem Tag. Samuel, Jonas, Mama, für mich sind sie alle am selben Tag gestorben. Und ich, ich weiss nicht einmal, was für ein Datum gestern war, an ihrem Todestag.

Als wir am Polizeiauto ankommen, bin ich so erschöpft, dass meine Beine unter mir nachgeben, doch der Griff der beiden hält mich immer noch aufrecht. Der Polizist drückt vorsichtig meinen Kopf runter und ich sinke kraftlos ins Wageninnere. Der blonde Beamte folgt mir, beugt sich über mich und befestigt behutsam den Sicherheitsgurt.

Ich lasse meinen Kopf gegen die Lehne hinter mir sinken und schliesse die Augen. Mein Körper zuckt und immer noch schlagen meine Zähne gegeneinander, mir ist so kalt. Es fühlt sich so an, als ob ich zu Eis erstarrt wäre. Und als ob nicht nur der Schnee schuld daran wäre. 

Hitze brennt auf meine Wange, als der Polizist sich erneut über mich beugt und sachte mein Gesicht berührt. 

"Andreas, wie heisst du zum Nachnamen?"

"Stern...", murmle ich und die Augen fallen mir wieder zu. Erneut berührt mich jemand, der Polizist erscheint verschwommen vor mir. Sein Mund bewegt sich, doch ich höre nur Rauschen in meinen Ohren. Jemand schüttelt mich.

"Andreas, hey!"

Die Watte verflüchtigt sich und jetzt sehe ich direkt in helle, blaue Augen, die mich mit Argwohn mustern. 

"W...was?", murmle ich verwirrt, mein Gehirn wirkt wie vernebelt. 

"Deine Mutter, wie heisst sie?"

"S...Sarah...", flüstere ich, den Kopf zum Fenster geneigt.

"Sarah Stern?"

Ich nicke, kämpfe mit den Tränen, die in mir aufsteigen. Das Zittern wird stärker, die Zähne schlagen hart gegeneinander.

Der Polizist wirft mir einen kurzen Blick zu, dann streift er seine Jacke ab, drückt mich vorsichtig nach vorne und legt sie mir um die Schultern. Dann wandert sein Blick wieder zu meinem Gesicht hinauf.

"Was ist da passiert?", fragt er, die Hand in Richtung meines schmerzenden Wangenknochens gerichtet.

Ich schüttle wortlos den Kopf, kralle meine Finger noch stärker in den verletzten Arm.

"Andreas, willst du mir erzählen, was geschehen ist?"

Erneut schüttle ich den Kopf. Versuche die Tränen zu verbergen, die in meinen Augenwinkeln schimmern. Doch das Zittern lässt sie sich lösen und sie fliessen tonlos meine Wangen hinab. Wieder zuckt der Arm des Polizisten nach vorne, doch nun zögert er und seine erhobene Hand bleibt in der Luft hängen.

Ich bin so müde. Aber mein Herz scheint zu rasen und meine Atmung hetzt ihm hinterher. Langsam verschwimmen die Dinge um mich herum, werden zu fahlen Umrissen. Meine Wange pulsiert, mein Arm sticht. Hunderte Stimmen scheinen meinen Namen zu rufen.

Andreas. Andreas.

Ich schweife ab. Mein Herz scheint sich zusammenzukrampfen, mir wird so kalt. Aber die Zähne schlagen nicht mehr, nichts zuckt oder zittert mehr. 

Alles scheint ewig und ruhig. Ich schlafe ein.


Hello,

Ich habe heute ENDLICH meine Maturaarbeit fertiggeschrieben! Na, gut ich muss sie noch ungefähr zehnmal gegenlesen lassen, aber hey, eigentlich ist sie fertig.

Meine Nachbarn sind gerade auf die Idee gekommen, die letzten zwei Bäume in unserem Quartier zu fällen. Bravo, jetzt gibt's da nur noch eine weisse Einfamilienhaus-Wüste. In diesen Bäumen haben ganz viele kleine Eulen gewohnt, die man nachts singen hören konnte. Blöde Menschen, echt.

Lasst euch nicht von meiner schlechten Laune stören und habt ein schönes Wochenende ;) 

Liebe Grüsse, 

Avocady




SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt