Kapitel 9.

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Tage später 

Stichartige Schmerzen schiessen durch meinen Oberkörper, als ich mich auf die Krücken stütze. Es tut weh, sehr weh, aber alles ist besser als der Rollstuhl. Ich brauche die Kontrolle,  denn obwohl ich es nicht zugeben würde, es macht mir Angst. Es macht mir Angst in die Psyche zu kommen, es macht mir Angst fremde Leute über mein Schicksal bestimmen zu lassen und es macht mir Angst völlig allein zu sein. 

Ich humple möglichst schnell nach vorne, um endlich dieses Krankenhaus zu verlassen, um nicht mehr die misstrauischen Blicke der anderen Patienten zu sehen und unter der ständigen Beobachtung der Ärzte und Polizisten zu stehen. Es würde nicht besser werden, aber die irrationale Sehnsucht nach frischer Luft, nach einem Windhauch und gesunden Menschen statt dem sterilen Spitalgeruch, dem Linoleum und den kranken gebrechlichen Patienten. 

Eingeengt zwischen dem Polizisten, Robin Sturm, und der Ärztin, Dr. Julia Mertens bewege ich mich durch die hell erleuchteten Flure und hänge meinen Gedanken nach. Ich müsste irgendwie abhauen können, am besten bevor ich in der Psychiatrie landete, doch das war schier unmöglich solange die beiden mich genau im Visier hatten. Vielleicht könnte ich sagen, dass ich auf die Toilette müsste, doch das würde nicht viel bringen, schliesslich hatte diese keinen Hinterausgang und außerdem würde der Polizist mir wahrscheinlich folgen. 

Dann sind da plötzlich warme Finger auf meiner Schulter und ich spüre den Schock wie eine Bombe in meinem Brustkorb explodieren. Reflexartig schnellen meine Arme vor meinen Oberkörper und ich ducke mich hastig. Mein geschientes Bein hält mich nicht und ich verliere den Halt. Ohne einen Laut stürze ich zu Boden.

Ich schliesse die Augen, blende die Stimmen und Gesichter um mich herum aus, liege für einen Moment nur regungslos da und höre meinem rasenden Atem zu. Zusammengerollt wie ein Embryo auf dem hässlichen Linoleumboden. Irgendwann gebe ich den Rufen nach und öffne die  Augen wieder, rapple mich mühsam wieder auf und schüttle die helfenden Hände panisch ab. 

"Fassen Sie mich nicht an. Bitte. I..ich...bin erschrocken.", murmle ich und humple schnell weiter, doch nur ein paar Meter weiter drehe ich mich wieder um. Ich ertrage die wissenden Blicke in meinem Rücken nicht.  "Ich weiss was Sie jetzt denken, hören Sie auf damit. Bitte. Sie kennen mich kaum, also hören Sie auf zu spekulieren." 

Julia und Robin holen schnell auf und schon bin ich wieder eingeengt zwischen ihnen und ihren scharfen Blicken, die sich über mich zu unterhalten scheinen. 

"Entschuldigung, aber ich müsste noch zur Toilette", murmle ich und verfange mich beinahe in meinen eigenen Worten. Nicht zum Fliehen, aber wenigstens etwas Ruhe. Ein paar Sekunden, nur schnell. 

"Einverstanden, aber Robin kommt mit", meint die Ärztin und wirft dem Polizisten einen vielsagenden Blick zu. 

"Nein, bitte. Ich, ich brauche Ruhe. Nur kurz, bitte", protestiere ich schwach. Die Ärztin sieht misstrauisch aus, aber Robin nickt mit einem leichten Lächeln.

Ich wanke unsicher bis zu den Toiletten, stütze mich mühsam am Rand des Waschbeckens ab und atme erleichtert auf, als die Türe hinter mir zufällt. Doch dann begreife ich. Ich komme hier nicht raus. Nie mehr. 

Das Gefühl beobachtet zu werden, lässt mich zusammenfahren und ich drehe mich zitternd um. Ich erkenne die Person mir gegenüber nur langsam. Wie Puzzle-Stücke die sich in meinem Kopf zusammensetzen. Lars. 

In seinen blauen Augen flackert Erkennen auf, dann Erleichterung, dann Angst. 

"Andreas...du siehst echt scheisse aus...", murmelt er und betrachtet mich mit einem Hauch von Furcht

"Ich weiss. Ich fühl mich aus so."

"Ist...ist es..."

"Nein...es ist nicht wegen euch. Ich hab Heroin geschluckt, weil ich mich umbringen wollte, deshalb."

"Wegen uns?"

"Zum...Teil...aber das war nicht der Hauptgrund..."

"Kommst du zurück? In die Schule, meine ich."

"Nein. Ich komme in die Klapse, damit ich mich nicht noch einmal umzubringen versuche."

"Und danach?"

"Keine Ahnung. Ich..."

"Willst du dich immer noch umbringen?"

"Ja. Aber wie's aussieht bin ich gänzlich unfähig darin...", murmle ich und versuche zu lächeln, während ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen.

"Du hast es schon ein paar Mal versucht." Eine Feststellung, keine Frage.

"Du kannst es den anderen erzählen. Es ist mir egal."

"Das werde ich nicht. Niemand redet mehr über dich. Alle wissen, dass sie etwas falsch gemacht haben, deshalb schweigen sie. Es...es tut mir leid...Andreas...wegen letzter Woche und auch...der ganze Rest...alles tut mir leid."

"Es ist egal", flüstere ich müde. "Es ist mir jetzt alles egal."

Und dann wanke ich aus der Toilette zurück zu den Beamten.

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Die junge Ärztin mustert mich mit unverhohlener Skepsis in den grün-grauen Augen, als ob ich allein auf die Idee gekommen wäre, mich selbst in die geschlossene Psychiatrie einzuweisen. Ohne zu zwinkern antworte ich ihrem scharfen Blick, während in meinem Kopf tausende von Gedanken sich bekämpfen, -Fluchtgedanken, heisse Panik, Trotz und Erleichterung zugleich. Unruhig trommle ich mit zitternden Fingerkuppen auf die Stuhllehne, immer und immer wieder, bis ich Julias warme Finger auf meinem Handgelenk spüre. Nachdrücklich presst sie es auf die eiskalte Stuhllehne und wirft mir einen vielsagenden Blick zu, der mich erstarren lässt.

"Andreas, würdest du mir erzählen weshalb du hier bist?", fragt die Ärztin, während sie versucht meinen Blick zu fixieren.

"Ich sehe keinen Grund darin Ihnen das noch einmal zu erklären, Dr. Martinson."

Sie wirkt etwas überrascht, als ich sie mit ihrem Namen anspreche, doch dann fällt ihr Blick auf ihren Kittel und sie sucht mit hochgezogenen Augenbrauen wieder Augenkontakt. 

"Ich würde es gerne aus deinem Mund hören, Andreas."

"Ich weiss wie ich heisse. Hören Sie bitte auf damit", murmle ich schroff.

"Wie fühlst du dich?"

"Wie wohl? Ich werde gerade gegen meinen Willen in die Klapse eingewiesen. Wie soll ich mich fühlen? Sollte ich jubeln und Ihnen um den Hals fallen, weil sie mir gerade meine Entscheidungsfreiheit einschränken und mein herrliches Leben gerettet haben?"

"Zynismus ist ein Zeichen für Depressionen, also hör lieber auf damit, sonst bleibst du hier noch länger."

"An dieser Stelle sollte ich wohl lachen."

"Nein. Du solltest mir sagen, wie du dich fühlst."

"Müde, wütend, verzweifelt, trotzig, panisch und verrückt."

"Und weshalb bist du hier?"

"Weil ich mich umbringen wollte."

"Falsch. Weil du dich umbringen willst."

"Ich will nicht mit Ihnen reden, das wissen Sie, oder?"

"Genau deshalb tue ich es."

"Gut. Und was muss ich jetzt tun, damit ich nicht mehr mit Ihnen reden muss?"

"Nichts. Ich lass dich für heute gehen. Pfleger Yannick wird dich zu deinem Zimmer bringen, ich sehe dich morgen um dieselbe Zeit."

"Danke."

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