Kapitel 86. Weitermachen

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Triggerwarnung für Andeutungen von Selbstverletzung und schwerer Körperverletzung

Es ist warm im Gerichtssaal, ich friere trotzdem. Die rote Digitalanzeige auf der anderen Seite des Raums zeigt 8:27 an. Mein Herz schlägt merklich zu schnell, ich spüre die Pulsationen bis in meine Halsschlagadern hoch, besonders im Stehen kommt mir das unerträglich vor. 

Schweigend beobachte ich die Reihe von dunklen Roben, die sich mit gehobenen Köpfen an ihre Plätze bewegen. Es sieht lächerlich aus, wie Gänse, mit verkniffenen Gesichtern und steifen Schritten. Für einen Moment merke ich, wie mich das wütend macht, diese peinlichen Männer und Frauen, die überheblich auf mich runterblicken und sich einfach das Recht nehmen, über mich und meine Taten urteilen zu dürfen. Die im Namen der Wahrheit und Gerechtigkeit und was auch immer mein Leben komplett auseinanderreissen, schlucken und dann in kleinen, halb verdauten Häppchen wieder vor die Füsse spucken. Aber dann fällt mir ein, dass ich eigentlich viel zu müde bin, um wütend zu sein und vor Angst meine Finger nicht mehr spüren kann. Wahrscheinlich atme ich wieder zu tief. Oder zu schnell. Nicht richtig jedenfalls.

"Sie dürfen sich setzen", sagt die vorsitzende Richterin knapp. Danny zieht mich mit sich runter, als sich der ganze Saal setzt. "Es ist jetzt 8:30. Ich begrüsse Sie hiermit zum zweiten Tag der Hauptverhandlung vor der Jugendkammer in Sache Andreas Stern. Das Gericht beginnt nun mit der Beweisaufnahme."

Mein Gehirn ist völlig leer, als sich an der bisher leeren Wand ein Bildschirm aus der Decke absenkt. Gerichtsmedizinischer Untersuch steht drauf. Es erinnert mich an die Powerpointpräsentationen aus der Schule, wahrscheinlich ist es auch genau das. Vorname, Name, Geschlecht, Alter. Mama war erst 40, als sie starb. 23 als sie mich und Samu hatte. Mein Vater war deutlich älter, ist deutlich älter. Mehr als zehn Jahre. Seine neue Frau ist noch jünger. 

Die Folie wechselt. "Durchtrennen beider Halsschlagadern", sagt der Mann, der vorne steht und erklärt. Ich gebe mir Mühe, die anderen Punkte zu lesen, schliesslich muss ich mir Notizen machen, hat mir meine Anwältin gesagt. Halsschlagadern. Durch. Lungen. Kollabiert. Milz. Lazeriert. Darm. Punktiert. An vier Stellen. Dreiundzwanzig Stiche. 

Irgendetwas in meinem Kopf ist komisch. Ich kann nicht genau den Finger drauf legen, lehne mich etwas im Stuhl zurück, um besser sehen zu können. 

"Alles gut?", fragt Danny neben mir. "Ja, alles gut", sage ich knapp. 

Abwehrspuren an beiden Händen.

Mein Kopf ist plötzlich neblig. Es kommt von hinten, ich spüre, wie ich kippe.

"Hey, Tres. Tres, willst du dich kurz auf den Boden legen?"

Ich gerate auf den Boden. Jemand hält mir die Beine hoch. Dannys Stimme pfeift in meinen Ohren. "Wird gleich wieder, ja?", sagt er. "Nur die Ruhe."

"Sorry. Sorry, ich bin wieder okay", sage ich, als mein Kopf wieder klarer wird.

"Alles gut. Nimm's ruhig, ja? Bleib noch kurz liegen."

"Geht schon", bringe ich hervor, ziehe meinen Rücken an der hölzernen Sitzreihe hinter mir in die Höhe. "Tut mir leid. Tut mir echt leid."

"Alles gut. Hier, trink einen Schluck. Ich hab hier Traubenzucker für dich."

Es ist demütigend, wieder aufzustehen, den staubigen Erdbeergeschmack noch im Mund, alle Blicke auf mich gerichtet. Durchtrennte Halsschlagader steht immer noch vorne. Danny hakt sich bei mir unter, als er merkt, dass ich taumle.

"Herr Stern, geht es Ihnen wieder etwas besser?", fragt die Vorsitzende, als sich unsere Blicke treffen.

"Ja...entschuldigen Sie bitte", bringe ich hervor. Der Boden schwankt schon wieder bedenklich. 

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt