Kapitel 29. Scham

1.1K 89 11
                                    

"Willst du duschen?", fragt mich der Polizist nach meinem demütigenden Gang zur Toilette.

Ich nicke mit einem beschämten Blick in seine Richtung. Ich will Nick nicht mit meiner Gleichgültigkeit für meine Hygiene, für mein ganzes Leben belästigen. Unter meinen Fingernägeln klebt Blut, Schweiss und Blut mischen sich in meinem Haar. Armselig. Innen und aussen.

Der braunhaarige namenlose Beamte geleitet mich zu dem kleinen weissen Raum, indem eine unansehnliche Dusche mit Anti-Rutschmatte liegt. Es ist eine Befreiung, ohne Handschellen gehen zu können, doch der Verband und die Infusionskabel schlingen sich als ständige Erinnerung an meine desolate Lage um meine Arme. Auch wenn sie nicht da wären, lassen die kahlen weissen Wände, hin und her huschenden Personen in weiss und blau und silbernen Medikamentenwagen nicht viel Platz zum Träumen.

Der Polizist drückt den Klingelknopf, als ich mich auf den hässlichen Plastikstuhl sinken lasse. Ich versuche zu träumen, während eine junge Frau mir Zugang und Verband mit schwarzen Plastikstreifen abdichtet.

Wenn das Auto Samu nicht überfahren hätte...Mama und Papa wären zusammengeblieben, sie hätten uns gemeinsam aufgezogen. Wir wären in dem geschniegelten Einfamilienhaus gross geworden, mit giftgrünem Millimeterrasen und je einem roten Fahrrad. Wir hätten uns in der Grundschule mit vielen Kindern angefreundet, schliesslich sind eineiige Zwillinge eine interessante Bekanntschaft. Dann wären wir gemeinsam aufs Gymnasium. Nicht an die zerfallene, mobbinggeplagte Grossstadtschule, sondern eines der teureren, mit grossem Campus umgeben von hübschen Birkenhainen, die sich im Herbst gelb färbten. Wir hätten ab und zu Partys geschmissen auf dem giftgrünem Millimeterrasen, mit allen Klassenkameraden. Uns vielleicht verliebt. Mama und Papa hätten ihren Jahrestag gefeiert und Apéros gegeben.

Wir hätten Abi gemacht und studiert. Medizin vielleicht. Oder Jura. Geschichte, Biologie, Kunstwissenschaften. Die Welt hätte uns offen gestanden. Samuel mochte Musik schon immer, er hatte in der Woche mit Ukulele angefangen, in der er starb. Musikwissenschaften vielleicht.

"Andreas."

Überrascht schrecke ich aus meinen Tagträumen. Es ist das erste Mal, dass mich der fremde Polizist mit meinem Namen anspricht. Er blickt mich erwartungsvoll an.

"Willst du dich nicht ausziehen?"

Ich mustere verlegen den feuchten Boden. 

"Müssen Sie drin bleiben?"

Er nickt ohne es sich eine Sekunde lang zu überlegen. 

"Wieso denn?", murmle ich verzweifelt und fahre mir mit der freien Hand durch die schmutzigen Haare.

"Ich kann doch ohnehin nichts machen", meine ich leise und deute auf den bandagierten Arm. 

"Es geht um deine Sicherheit", sagt er knapp und endgültig.

Ich schweige für einen Moment. Am liebsten würde ich einfach den Rückzug antreten, zurück in mein Bett. 

"Ich schäme mich."

Der Polizist schüttelt leicht den Kopf. 

"Das ist mein Job", sagt er nur und lässt seinen Blick zur Seite schweifen, als ich mich unbehaglich und ungelenk aus meinen Sachen quäle. Wobei "meine" in diesem Fall für die labbrigen Fundkleider des Krankenhauses steht. Angeekelt von meinem nackten, kaputten Körper steige ich in die Dusche und lasse das Wasser auf meine Haut hinabprasseln. Ich lasse es genauso, wie es eingestellt war. Eisig kalt.

Rötlich-braune Rinnsale laufen über meinen Bauch hinab auf den Boden. Sie verschwinden mit blubbernden Geräuschen in den Abfluss. Zusammen mit all dem Schweiss, den Tränen und Erbrochenem, die auf meiner leichenblassen Haut kleben.

Irgendwann bin ich fertig und das Blut tropft nicht mehr aus meinen Haarspitzen. Das Shampoo in meinen dunklen Locken riecht nach künstlich-süssen Duftstoffen statt eisernen Hämoglobin-Komplexen. 

Ich trete zitternd aus der Dusche und hülle den Bademantel um meine knochigen Schultern.

"Hier", spricht mich der Braunhaarige mich mit ernstem Blick an und reicht mir ein neues Bündel Kleider. Ich streife mir den ausgeleierten Stoff wortlos über die Haut und kehre mit dem Polizisten in das Krankenzimmer mit der Nummer 311 zurück.

Nick lächelt mich warm an, als ich den Raum betrete. 

Was für Sorgen machen ihn wohl nachts schlaflos? Abschlussprüfungen oder vielleicht das Vorstellen seiner Freundin?

"Willst du noch Zähne putzen?", fragt der Polizist und deutet auf die Putzutensilien, die auf dem Waschbecken stehen. Von alleine wäre ich nie auf diese Idee gekommen. Zähne putzen, Essen, Duschen. Was für absurde Dinge, wenn das Leben sinnlos ist. Weshalb Energie, weisse Zähne und gut riechendes Haar haben, wenn man sich eigentlich nur auflösen will?

Für Nick vielleicht. Und für Minuten ohne Handschellen.

Das Gesicht im Spiegel betrachtet mich spöttisch. Ich sehe aus wie der Tod. Beinahe glaube ich schon die glatten, weissen Knochen meines Schädels zu sehen. Die leeren Augenhöhlen und entblössten Zähne. Aber wenigstens sind sie weiss. 

Das Leichenantlitz wendet sich zur Seite, als ich es tue. Ich schiebe die braunen Locken zwischen uns und blicke zu Nick. Nick, dessen Haut leicht gebräunt und eben ist, dessen Augen wach und funkelnd sind und dessen Körper sich geschmeidig bewegt.

Ich schliesse die Augen, als die Handschelle sich klickend um mein Gelenk schliesst. Fussschritte als der wortkarge Polizist den Raum verlässt. 

Es klopft an der Tür.

Mehrere Stimmen begrüssen Nick fröhlich. Kinder und Erwachsene. Eltern, Tanten, Cousinen, was auch immer. Ich habe nicht die Kraft, die Augen zu öffnen und seine perfekte Familie zu betrachten.

"Das ist mein Bettnachbar – Andreas!", höre ich Nicks warme Stimme und reisse erschrocken die Augen auf. Der Blonde deutet mit einer Hand zu mir, dann zu seiner Familie, als wolle er uns einander vorstellen.

Mir bleibt die Luft weg.

Ich kenne seine perfekte Familie. Seine Tante, die das braune Haar in einem hübschen Dutt hochgesteckt trägt, den Onkel mit den dunklen Locken und kantigen Gesichtszügen. Den Cousin mit denselben braunen Haaren, wie sie seine Mutter hat und das kleine Mädchen mit dutzenden Haarspangen. Sie begegnen meinem Blick wortlos und erschrocken. 

"Ist alles in Ordnung?", fragt die blonde Frau direkt neben Nick. Wahrscheinlich ist sie seine Mutter. Verwirrt blickt sie zwischen Nick, ihrem ebenfalls blonden Mann und der Familie ihrer Schwester hin und her.

"Kennt ihr euch?", fragt Nick mit Verwunderung in der Stimme.

"Nein", unterbricht ihn mein Vater, mein Erzeuger, was auch immer. Seine dunklen Augen funkeln bedrohlich in meine Richtung. Wag es nicht, sagen sie.

"Doch natürlich tun wir das!", weist ihn seine Frau scharf zurecht und packt ihn am Arm.

"Ich werde um ein anderes Zimmer für dich bitten", zischt er und reisst sich so heftig los, dass sie zurücktaumelt.

"Nein!", übertönt Nick seine Familie und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.

"Nein, er bleibt hier."


Wieder einmal ein neues Kapitel! :)

Danke vielmals, an alle, die abstimmen und kommentieren – ich freue mich jedes Mal extrem! 







SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt