Kapitel 84. Wut

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Danny hält den neonfarbigen Stressball auf, bevor er über die Tischkante stürzt. Mit eindringlichem Blick in den tiefbraunen Augen drückt er ihn mir zurück in die bebenden Hände. 

"Alles gut", flüstert er beruhigend. "Wir sind ja vorbereitet."

Ich schüttle stumm den Kopf. Ich bin nicht vorbereitet, denke ich, etwas desorientiert, starre runter auf die schwarzgemalte Tischplatte. Die hölzernen Ringe darin bewegen sich vor und zurück, bin mir nicht sicher, ob ich schwanke oder es eine optische Illusion ist. Er muss heute nicht hier sein, aber er ist es trotzdem, freiwillig. Das ist nicht gut. Ich bin nicht mehr naiv genug, um zu hoffen, dass er auch nur ein nettes Wort über mich verlieren wird. 

"Alle Zeugen sind aufgerufen, den Sitzungssaal nun zu verlassen", reisst mich die vorsitzende Richterin aus meinen Gedanken. Benommen beobachte ich, wie er den Raum verlässt, mit allen anderen, mit seiner neuen Frau. Er sieht mich nicht an, aber es schmerzt mich nicht mehr sonderlich. Er will mich nicht, wollte mich auch nie. In Mamas Drogenelend habe ich all meine Träume und Hoffnungen auf ihn projiziert, gedacht, dass er seine Gründe gehabt haben muss, uns zu verlassen und irgendwann zurückkommt, mit Samu natürlich. Aber sie waren beide Lügner, die Mama und der Papa aus meiner frühen Kindheit.

"Es ist nun 10:05. Der Vorsitz beginnt nun mit der Vernehmung des Angeklagten zu seiner Person", fährt die Richterin fort. Sie sieht mich dabei an, ich nicke mit zusammengebissenen Zähnen, als ob sie tatsächlich eine Antwort von mir erwartet hätte. Befremdet runzelt sie die ergrauten Brauen. 

"Bestätigen Sie mir bitte Ihren Namen", sagt sie knapp mit Blick auf ihre Notizen. Danny drückt geistesgegenwärtig neben mir aufs Mikrofon, mit einem Klicken schaltet es sich ein und kondensiert meinen raschen Atem zu einem schrillen Pfeifen. 

"Andreas Stern", erwidere ich, das Zittern in meiner Stimme ist unvermeidbar, es reicht bis in meine Zehenspitzen runter. 

"Geburtsdatum?"

"22. November 2001."

"Gehen Sie noch zur Schule, Herr Stern?"

"Ich habe gerade mein Abitur gemacht", erwidere ich verlegen. Die Kreise auf dem Tisch werden kleiner und grösser. Bestimmt der Schlafmangel, denke ich mir müde. 

"Haben Sie Ihre Resultate schon erhalten?"

"Ja", erwidere ich, zwinge mich aufzusehen. "Ich habe bestanden."

"Gratuliere", sagt die Richterin aufrichtig. "Sind Sie mit ihrer Note zufrieden?"

"Ja", wiederhole ich leise. "Ich hab die 1,0 geschafft."

"Beeindruckend", bemerkt sie, notiert sich etwas. "Was haben Sie jetzt für Pläne?"

"Ich weiss es...noch nicht", sage ich betreten. Wir wissen schliesslich beide, dass es hiervon abhängt. Von ihrer Entscheidung unter anderem. 

Sie nickt bloss, wechselt einen kurzen Satz mit den Richtern neben ihr. 

"Das Gericht geht über zur Verlesung der Anklage durch den anwesenden Staatsanwalt."

Erschöpft von dieser kurzen Interaktion lasse ich mich im Stuhl zurücksinken, beobachte den Mann in schwarzer Robe, der nun aufsteht. "Gut gemacht", sagt Danny leise, tätschelt dabei meinen Arm. Ich drücke den Stressball so hart, dass meine Fingerkuppen surren wie die Worte des Staatsanwalts in meinen Ohren. Alleine diese paar freundlichen Fragen, auf die ich gar nicht falsch antworten konnte, haben mich ausgelaugt. Ich hoffe, das wird mit der Zeit besser, denke ich müde, sonst halte ich das nicht bis zum Ende durch. 

"Tres", sagt Danny neben mir leise. "Du musst antworten."

"Was?", frage ich mit vager Panik. 

"Ich wiederhole die Frage", meint die Vorsitzende. "Sie wurden über ihre Rechte und Pflichten belehrt. Wollen Sie sich zu Ihren persönlichen Verhältnissen und dem Anklagevorwurf äussern?"

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt