Kapitel 81. Was ich will

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Etwas stimmt nicht mit dem Vektor. Genervt lasse ich den Bleistift über den hingekraxelten Lösungsweg schweben. Die Geradengleichung stimmt, ich hab sie schon dreimal überprüft, das erste Skalarprodukt stimmt definitiv, der Fehler muss also irgendwo in meinem kurzen Beweis liegen. Und ich finde ihn einfach nicht.

Müde blicke ich hoch zur Decke. Das weisse Licht im Prüfungssaal blendet unbarmherzig, ich lege den Kopf schief, hin zu den stillen, schreibenden Reihen von Mitschülern, wieder zurück auf das linierte Papier. µ = 3/5 denke ich irritiert. Woher hab ich diese Zahl überhaupt? Nicht aus der Aufgabe zuvor jedenfalls, so wie es eigentlich sein sollte. Hah, denke ich frustriert, die ganze Rechnung neu, Zeile um Zeile. Alles, weil ich dumme Fehler mache. 

Der Stuhl knarzt, als ich mich zurücklehne. Auf der Anzeigetafel laufen die letzten paar Minuten ab. Es hat etwas Unheilbringendes an sich. 

Der durchdringende Pfeifton kündigt das Ende der Prüfung an. Das Kinn in die Handfläche gestützt, beobachte ich die Aufsicht in meinem Sektor dabei, wie sie in aller Seelenruhe die Mappen einsammelt. Erst als alle Prüfungen in säuberlichen Stapeln vorne liegen, bricht im Saal Lärm aus. Ich greife nach meinem Rucksack und quetsche mich an den Nachbartischen vorbei, die bereits in ein enthusiastisches Gespräch über das heutige Tagtrinken vertieft sind. 

Irgendwie ist mir übel. Das Abi war das Letzte, was mich vom Gerichtstermin getrennt hat, jetzt weiss ich gar nicht, was ich die nächsten drei Wochen mit mir anfangen soll. An die Abifeier werde ich ohnehin nicht gehen, warum auch, ich kenne kaum jemanden. Es ist frustrierend, dass ich trotzdem enttäuscht bin. Wahrscheinlich hat sich irgendein besonders illusorischer Teil meines Hirns trotzdem vorgestellt, wie es wäre. Mit Anzug und Blumen und Nick. Vor allem Nick. Es klingt so lächerlich, wenn ich genauer darüber nachdenke. Fuck, ich vermisse ihn viel zu sehr. 

"Hey Tres!"

Gloria packt mich am Ärmel, bevor ich durch die gläserne Automatiktür nach draussen verschwinden kann. Ihre dunklen Augen unter mindestens ebenso dunklen Augenbrauen funkeln mich euphorisch an, als sie mich mit sich zur Seite zieht.

"Kommst du mit in den Park?"

"Lieber nicht", erwidere ich verlegen. "Ich trink eh nicht."

"Komm schon, nur einmal anstossen. Danny hat sicher nichts dagegen."

"Heute ist eh Jamie da", murmle ich abwehrend, obwohl ich natürlich weiss, dass Jamie mir im Gegensatz zu Danny das Meiste erlaubt. Gloria schnaubt.

"Mach was du willst", sagt sie. "Brauchst du was ausm Denner?"

"Nein", erwidere ich, etwas überrascht, dass sie so leicht aufgibt. Aber sie sieht müde aus, das lange Haar löst sich bereits in dicken Strähnen aus ihrer Hochsteckfrisur, die Augenringe schimmern trotz Schminke durch. Müde, aber glücklich. Ich frage nicht nach, wie ihre Prüfung gelaufen ist. 

"Sag Jamie, dass ich ihr schreibe, wann ich zurück bin", sagt sie und verschwindet im Getümmel, als ob sie nie hier gewesen wäre. Halb belustigt setze ich meinen Weg fort, raus aus dieser Schule, an die ich vermutlich nie mehr zurückkehren werde. Der Spind ist schon ausgeräumt und abgegeben, mehr gibt es gar nicht an dieser Schule, das irgendwie zu mir gehört. Es ist fast traurig, wenn da nicht dieser Gerichtstermin wäre, könnte ich diesen Moment wahrscheinlich geniessen. Ich habe lang davon geträumt, endlich fertig mit der Schule zu sein, weg von den Leuten dort und weg vom Elend unserer Zwei-Zimmer-Wohnung. Weg aus dieser Stadt. 

Jamies Hündin springt an meinen Beinen hoch, als ich die Wohnungstür öffne. "Hey", begrüsse ich sie, spüre die feuchte Zunge an meiner Hand, als sie mich enthusiastisch ableckt. Karamell ist so ein grauenvoller Name, dass ich versuche, ihn so wenig wie irgend möglich auszusprechen, aber zugegebenermassen ist das die Farbe der weichen Hundehaare und der sehr treuherzigen Augen. 

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt