Kapitel 57. Wenn du willst

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Nicks Finger fliegen über die Tastatur seines Handys. Er sitzt immer noch nah genug an mir dran, dass er mich bei jeder seiner kleinen Bewegungen beiläufig berührt. 

"Bitte sag es ihm nicht", sage ich bloss, als es zu klingeln beginnt. Er hebt den Blick ein winziges Stück, sodass seine braunen Augen unter dem dunkelblonden Haar hervorlugen, legt beschwichtigend eine Hand auf mein Knie. Kurz setzt mein Atem aus.

"Andreas geht es nicht gut", spricht er in sein Telefon, bevor er sich an meinem Bein abstützt, um wieder auf die Füsse zu kommen. Es ist wieder ekelerregend kalt ohne ihn. Die geflochtene Strähne liegt quer über seine Nase, als er Falc mit müdem Blick zuhört, er wischt sie nicht weg.

"Nein, einfach schlecht. Und schwindlig."

Er wandert ein Stück von mir weg, bis hin zum anderen Ende des kleinen Pausenhofs zwischen Bibliothek und Mensa. Kurz vor der letzten kümmerlichen Birke macht er auf dem Absatz kehrt, nicht ohne jemandem durch die grossen Glasfenster zuzuwinken. Ich ziehe die Beine an, als er wieder vor mir stehen bleibt.

"Hier", sagt er und lässt das Handy in meine Hand gleiten. "Ist auf Lautsprecher."

"Hi", beginne ich zaghaft. 

"Hi, Andreas. Wie gehts?" Die Frustration in Falcs Stimme ist nur schwer zu überhören. Ich versuche mir vorzustellen, wie er klingt, wenn er erfährt, dass ich aus dem betreuten Wohnen fliege, sein Gesicht mit den enttäuschten dunklen Augen. Nick sinkt alarmiert neben mit zu Boden, als ich trotz zugehaltenem Mund ein Würgen nicht unterdrücken kann. Es kommt nichts, aber meine Antwort ist mehr Luftschnappen als Worte.

"Ich kann zur Physio, wenn du willst."

Nick setzt sich kopfschüttelnd vor mir in den Schneidersitz, seine schwarzen Docs schaben über die kleinen, eckigen Kieselsteine neben dem Mülleimer mit den Filzstiftzeichnungen drauf.

"Nein, schon gut. Gib mir einen Moment, ich muss wegen der Ortung anrufen."

Falc legt auf. Nick sieht mich wortlos an, die braunen Augen sind ernster als sonst.

"Tres, glaubst du, du schaffst es, wieder zu essen?"

"Ja", sage ich, ohne den Blick von ihm zu nehmen. "Das geht vorbei." 

Er blinzelt, aber das Telefon klingelt, bevor er antworten kann.

"Schaffst du es nach Hause oder soll ich dir ein Taxi rufen?"

Nick legt eine Hand auf mein Knie, was mich das Handy beinahe aus der Hand fallen lassen lässt. Er lächelt nicht, als ich aufsehe.

"Willst du lieber mit zu mir?"

"Ich darf nicht", murmle ich, den Blick auf das aufgemalte Anarchiezeichen auf dem Nagel seines Zeigefingers gerichtet. 

"Richtig", antwortet Falc scharf. 

"Er sollte nicht allein sein", sagt Nick knapp.

"Ich rufe seine Betreuung an."

Der blonde Student legt seine zweite Hand auf mein anderes Knie, die braunen Augen wieder auf mich gerichtet. 

"Ich kenne ihn kaum, – Danny", bemerke ich matt. Ich kenne ihn kaum, aber er kennt Menschen wie mich. Kaputte Menschen, die verstecken und hintergehen, ohne wirklich zu wissen, warum. Die sich aushungern, weil es eben geht.

"Dann ist es höchste Zeit, ihn kennenzulernen", sagt Falc bloss, er braucht keine Sekunde dafür. Nick nimmt mir das Handy kommentarlos aus der Hand.

"Fuck you", murmelt er und drückt auf den roten Hörer. Das Telefonat verschwindet, als ob es bloss ein böser Traum gewesen wäre.

"Er kriegt sich schon wieder ein, keine Sorge", meint Nick und stellt sein Handy auf lautlos. "Ich nehme alle Verantwortung auf mich, auch wenn du mit zu mir...willst?"

Ich nicke. Wahrscheinlich im gleichen Moment, in dem Gloria die Nummer meines Betreuers wählt und ihm alles über mein pathetisches Verhalten erzählt. Vielleicht schon im gleichen Moment, in dem Falc es erfährt. Ich will ihre Blicke nicht sehen, ihre Worte nicht hören, ihre Massnahmen nicht verstehen. Vielleicht geht mein Alarm ja an, letztlich kommt es eh nicht mehr drauf an.

Nick lächelt und ich beisse mir auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen. Es fühlt sich an, als würde ich ihn ausnutzen, jede Sekunde merke ich mehr, wie wenig ich ihn verdient habe. 

"Komm, wir nehmen die U-Bahn, ich wohn gleich neben der Haltestelle", sagt er sanft und hilft mir hoch, eine Hand um meine Hüfte gelegt. Sein blondes Haar riecht nach Kokos. 

"Tut mir leid", murmle ich gegen den Schwindel, der sich mit meinem fallenden Blutdruck in meinem Kopf ausbreitet. 

"Muss dir nicht leidtun. Kannst du gehen?"

"Ja."

Es geht erstaunlich gut, das Gehen. Fuss vor Fuss, Schritt für Schritt. Über den Schulhof, über den halbabgewetzten Zebrastreifen, die ewig langen Treppen runter zur U4, wo ich mich auf eine eisigkalte, obdachlosenhassende Sitzbank fallen lassen. Der Geruch von Gruft und Zigaretten ist dem von Freiheit ziemlich nahe und der Windstoss der herannahenden Metro lässt Nicks blonde Haare fliegen, als er sich mit einem triumphierenden Lächeln und meiner Fahrkarte in der Hand wieder zu mir umdreht. Mein Rucksack baumelt mit seiner Tasche von seinem rechten Arm. 

"Ich würde ja schwarzfahren, aber ich bezweifle, dass du Bock auf Rennen hast", sagt er schmunzelnd und lehnt sich neben mir gegen den Ticketautomaten. Ich ziehe müde die Mundwinkel hoch, ziehe seinen Mantel noch enger um mich, als die Kälte meine Beine hinaufkriecht.

"Tres. Das mit dem Essen..."

Die U-Bahn unterbricht ihn rücksichtslos, als sie dröhnend und quietschend zum Stehen kommt. Nick braucht knapp eine halbe Sekunde, um mich mit sich durch die rote Türe zu zerren und zwei freie Plätze neben einem Graffiti-übersähten Fenster einzunehmen.

"Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?", sagt er, ohne seinen Arm zurückzuziehen, der immer noch um meine Schulter liegt.

"Nein", murmle ich matt, den Blick starr nach vorne gerichtet. Ich war schon viel zu lange nicht mehr in der U-Bahn, in der U4 ohnehin kaum. Trotzdem, es fühlt sich fast an wie früher, niedriger Blutzucker und Tornado im Kopf, lange Zerrbilder in den Scheiben und dieses schwere Gefühl von absoluter Einsamkeit.

Nick zieht mich ein Stück enger an sich, bis mein Kopf auf seiner Schulter liegt. Erschöpft schliesse ich die Augen, atme seinen Geruch nach frischgewaschenen Haaren ein.

"Noch drei Stationen", sagt er und lehnt sich dabei gegen die Scheibe, was mich unsanft zur Seite sacken lässt. Alle Wärme in dieser eisigen Metro scheint von seinem Körper auszugehen, sein Atem geht ein wenig zu schnell. 

"Was willst du essen?", fragt er, als wir aus dem dunklen U-Bahn-Schacht an die Oberfläche kommen. Die beiden Polizisten neben dem kleinen Kiosk würdigen uns keines Blickes, als wir an ihnen vorbeigehen.


Tja, was für eine Reaktion erwartet ihr von Falc?

Und ja, es wird zur ungesunden Angewohnheit, aber leider schreibe ich nunmal in der Nacht besser. Gute Nacht allerseits. 

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