Kapitel 41. Und die verfickten Blumen

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Schneeregen schlägt hart auf meinen Schirm auf und rutscht mit einem schleifenden Geräusch von seinem Rand. Die halbgefrorene Masse schwappt links und rechts meiner dunklen Stiefel hoch, wie eine der farbfrohen Limonade-Eis-Mischungen aus dem Einkaufszentrum. Es ist unheimlich ruhig hier, kein Ton ausser dem befremdlichen Klatschen und den leisen Gesprächen der Friedhofsmitarbeiter.

Falc schüttelt meinen Schirm, sodass der Schneematsch in alle Richtungen spritzt. Für einen kurzen Moment schliesse ich die Augen, nur um den Anblick der graugrünen Thujen zu vermeiden, die den letzten Ruheort meiner Mutter als trostlose Wand von der Aussenwelt trennen.

"Bist du dir sicher?", fragt der Kommissar mit vor Kälte rauer Stimme. Beinahe geht sie im trommelnden Regen verloren. Wortlos mache ich einen Schritt auf das kleine, von Moos und Regen braun angelaufene Gebäude zu. Der Staat rückt wohl auch für Mordopfer keine grossen Summen raus. 

Mein Herz pocht wie verrückt, als ich die letzte Stufe nehme und vor der grauen Tür stehen bleibe. Das Bild, das ich von Mama habe, ist unscharf, verzerrt. Blondes Haar, grüne Augen, wie Stichworte in einer Sie-sucht-Ihn-Anzeige. Aber wie sie wirklich ausgesehen hat, kann ich bereits nicht mehr sagen. Mein Gedächtnis scheint bei Gesichtern nicht mehr zu funktionieren, alle verblassen nach und nach, verschmelzen zu einem einzigen. 

"Wir können jederzeit wieder gehen, wenn du willst", meint Falc leise neben mir. 

"Nein", knurre ich genervt. "Nein, ich schaffe das."

"Okay", sagt er behutsam. "Soll ich aufmachen?"

Ich nicke wortlos. Mir ist schwindelig, vielleicht von den vielen Medikamenten, die ich geschluckt habe, vielleicht weil mir das Laufen und Stehen immer noch schwer fällt. Oder einfach vor Angst. Ich glaube, insgeheim erwarte ich immer noch, dass sie lebendig vor mir steht, wenn ich durch diese Tür trete.

Ein Schwall warmer Luft und dem zitronigen Geruch eines Raumsprays schlägt mir entgegen, als Falc sich schliesslich an mir vorbeidrückt und die Tür öffnet. Der Knoten in meiner Magengrube zieht sich noch enger zusammen und ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe den Raum zu betreten, oder mich erst übergeben muss. 

Den Blick fest auf den Boden gerichtet, mache ich schliesslich die letzten drei Schritte zum Sarg. Erst beim Anblick der hellbraunen hölzernen Wand schaue ich auf.

Die Frau, die in diesem Sarg liegt, ist nicht meine Mutter. Sie kann es nicht sein. Ihre Haut ist beinahe makellos weiss, gerötet an den Wangen. Keine hässlichen tödlichen Stiche, keine blutige Lippe und blutige Nase, zerfressen vom Heroin. Keine verschmierte Mascara, keine unreine Haut und kein strähniges Haar. Was auch immer dort liegt, sieht lebendiger aus, als sie vor ihrem Tod war. 

So gerne würde ich sie anfassen. Nur leicht ihre Wange streifen. Sie würde aufwachen und ich würde merken, dass das alles nur ein Albtraum war. Das ich vor dem Fernseher eingeschlafen bin, Samu neben mir und Mama und Papa in der Küche. Nein, wahrscheinlich wäre ihre Haut kalt, kalt und weiss wie Porzellan. Eine Puppe, vielleicht weil Falc meine Psyche schonen wollte. Mama ist bereits unter der Erde, blutig und kaputt.

Der Raum ist kahl, keine Blumen, keine brennenden Kerzen, kein Bild von ihr. Nur ein Holzkreuz, das mahnend über den Sarg wacht. Es ist okay, es ist nicht sie die da liegt. Keine blutverschmierte, erstochene Leiche. Nur eine Porzellanpuppe.

"Kommen noch andere Leute?"

"Die offizielle Trauerfeier ist später", sagt Falc behutsam und legt eine Hand auf meine Schulter. 

"Ah", sage ich. 

"Willst du eine Kerze anzünden?"

Der Kommissar zieht eine Kerze aus seinem Rucksack und stellt sie neben ihrem Sarg ab. Was für ein absurder Gedanke. Eine Kerze anzünden, für eine Puppe. Er legt Blumen hin. Mama hat Blumen gehasst. Sie sind so verfickt fröhlich, hat sie immer gesagt. Was gibt ihnen das recht so verfickt fröhlich zu sein?

Etwas klebt zwischen den Fingern der Puppe. Etwas Dunkles, bräunliches. Etwas stimmt mit ihrem Brustkorb nicht, irgendwie ist er schräg. Ich beuge mich etwas vor, um sie näher zu betrachten. 

Blut. Es ist Blut. Es ist keine Puppe. Sie ist keine Puppe, sie ist eine Leiche.

Falc fängt mich auf, als ich zurücktaumle. Das Blut zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger, der kaputte Brustkorb. Ich habe ihr die Rippen gebrochen, es hat geknackst, wie trockenes Holz.

Meine Beine geben nach.

Der Kommissar zieht mich mit sich aus dem Raum, hinaus in den Regen. Beinahe rutscht er auf den nassen Steinstufen ab und fängt sich und mich gerade noch ab. Ich sinke auf dem schneebedeckten Granit zusammen, während er rasch die Tür zwischen mir und Mama schliesst. 

"Ich glaub ich muss kotzen", flüstere ich zitternd, aber es kommt nichts.

"Sie hat ausgesehen wie eine Puppe. Ich...dachte", versuche ich mich zu erklären, doch plötzlich klingt alles so furchtbar albern. Schlagartig überkommt mich die Scham und ich fühle mich in meinen durchnässten Kleidern nackt und hilflos. 

 Falc lässt mich noch ein paar Minuten gewähren und lässt mich weinend im Regen sitzen. Nur seinen Schirm hält er unentwegt über mich, obwohl ich ohnehin nicht mehr nasser werden kann.

"Komm, du musst ins Warme", sagt er dann unmissverständlich und zieht mich zu sich in die Höhe. Der Schirm fällt mit einem klatschenden Geräusch ins nasse Kies. 

"Mir ist schwindelig", murmle ich.

Falc seufzt leise und ich erwarte jeden Moment ein vorwurfsvolles "das war keine gute Idee" von ihm zu hören. Doch er sagt nichts, obwohl ich ihn vor Anstrengung keuchen hören kann, als er mich über die schmalen Kieswege des Friedhofs schleppt, die von Pfützen so gross wie kleine Seen durchzogen werden. 

Als wir endlich beim Auto ankommen und vor Nässe tropfend ins Innere gelangen, schüttelt er seine dunklen Locken wie ein Hund aus.

"Bitte bring mich noch nicht zurück", sage ich leise, aber Falc schüttelt den Kopf.

"Du klapperst vor Kälte mit den Zähnen", sagt er nur und startet den Motor. "Schnall dich an."

Einige Sekunden später scheint ihm in den Sinn zu kommen, dass ich das unmöglich kann und er beugt sich zu mir nach hinten. Beschämt schliesse ich die Augen und spüre, wie die Wassertropfen aus meinem Haar über mein Gesicht fliessen und sich mit meinen Tränen vermischen.

"Bist du wütend auf mich?", frage ich, als ich das vertraute Klicken des Anschnallgurts neben mir höre. Falc hält inne.

"Nein", antwortet er sachte und streicht mir ein paar durchnässte Haarsträhnen aus den Augen.

"Überhaupt nicht. Ich will nur nicht, dass du erfrierst. Du hast jetzt schon Fieber, es ist nicht nötig deinen Körper noch weiter zu strapazieren."  

"Ich glaube ich werde wahnsinnig."

"Nein, das wirst du nicht", sagt Falc und wischt mir mit einem Taschentuch die Tränen von der Wange. "Das ist alles nur das Fieber."


Ein etwas anderes Kapitel, aber so gefällt es mir eigentlich ganz gut. Und ein Zeitsprung war meiner Meinung nach dringend nötig.

Nächste Woche geht's dann wieder mit dem anderen Buch weiter.

Vielen Dank für alle lieben Kommentare und natürlich auch an alle, die abstimmen!












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