Kapitel 56. Skelett

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Die Schlange vor der Ausgabe ist lang und ich habe nicht vor, mich ihr anzuschliessen. Beim Gedanken an die fettige Lasagne wird mir übel. Noch übler, als mir ohnehin schon ist. Ich muss aufhören, muss endlich essen, aber es geht einfach nicht. Fast wie früher. Witzig. 

Jemand reisst mich plötzlich heftig zur Seite, packt mein Handgelenk und zerrt mich grob an sich. Glorias dunkle Augen blitzen nur Zentimeter vor meinem Gesicht auf, ihre zweite Hand liegt auf meiner Schulter. Ich kann ihr Parfüm riechen, als sie sich noch ein Stück weiter vorbeugt, bis sich unsere Oberkörper beinahe berühren.

"Willst du ein Skelett werden, oder was?", zischt sie und ignoriert dabei die Menschenreihe, die sich neugierig an uns vorbeidrängt. 

"Lass mich los", bringe ich perplex hervor. Sie schnaubt und verzieht dabei die schönen Lippen zu einem kaum sichtbaren Lächeln.

"Antworte, dann überleg ich's mir."

"Das geht dich nichts an."

Sie hebt die Augenbrauen.

"Ok. Aber vielleicht Danny."

"Nein", antworte ich genervt. Solange ich tue, was sie wollen, kann ihnen der Rest egal sein. 

"Warum denkst du, mag Nastja Danny nicht, hm?", fragt sie und klingt dabei gereizt, als ob ich zu dumm wäre, um das Offensichtliche zu erkennen. Als ich nicht antworte, schleudert sie mit Zeigefinger und Daumen eine verirrte Locke weg, die mir verwahrlost ins Gesicht hängt.

"Weil sie alles ins Klo kotzt, wenn niemand hinsieht und Danny ihr das nicht durchgehen lässt, im Gegensatz zu Jamie. Überraschung, wird er auch bei dir nicht. Und du bist in Probezeit."

Genervt schiebe ich ihre Hand von meiner Schulter. Sie zuckt nicht mit der Wimper, als ich sie unsanft ein Stück von mir wegschiebe, um mir ein wenig Platz zu schaffen. Probezeit. 

"Das ist meine Sache."

Sie packt unversehens ein Büschel meiner Locken, reisst mein Gesicht schmerzhaft zu sich heran, sodass ihre Nase meine beinahe berührt, ihre Haare meinen Hals streifen. Ihre dunklen Augen mustern mich ernst.

"Jetz' nicht mehr. Also – isst du oder nicht?"

Ich kann ihr nicht antworten, mir bleibt die Luft weg, als die Panik meine Bronchien hinaufklettert. Die ganze Situation ist mir allzu bekannt, gleich kommt die Ohrfeige, dann noch eine und noch eine, bis Blut aus der Nase tropft. Ich schliesse instinktiv die Augen.

Die Ohrfeige kommt nie. Gloria atmet bloss langsam aus, ich spüre ihren Atem an meiner Wange vorbeiziehen, als ich wieder aufsehe. Für einen Moment starrt sie mich mit ausdruckslosem Gesicht an, ihre Habichtsaugen glitzern im gelblichen Licht der Mensa.

"Nicht so tolle Kindheit gehabt, ne?", sagt sie schliesslich und lässt mein Handgelenk fallen, als hätte sie gerade in glühende Kohlen gefasst. Ich mache einen Schritt zurück, bevor sie noch etwas sagen kann, noch einen, bis sie belustigt schnaubt.

"Okay, wie du willst", sagt sie, ihre weissen Zähne schimmern spöttisch zwischen dem dunklen Lippenstift hervor. "Danny freut sich immer, wenn ich anrufe."

Mit einer ironischen Kusshand dreht sie sich um und drängt sich in die Menschenschlange neben uns, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie ihn anrufen wird. Scheisse wird er wütend sein. Nicht mal eine Woche lang habe ich durchgehalten, nicht mal zwei verdammte Tage. 

"Alter, du stehst im Weg."

Ich taumle zur Seite. Fuck, mir ist plötzlich wieder so schwindelig. Fuck, fuck, fuck, sie werden mich rauswerfen, doch wieder Psychiatrie. Er wird so wütend sein, so enttäuscht. Er wird gehen, wie Aaron, mich nicht mehr anschauen können. Ich muss mit Gloria reden, muss essen, irgendwie, bevor alles kaputt geht. Aber Gloria ist weg, verschwunden in dem Meer aus wogenden, lachenden Köpfen vor mir. 

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt