Kapitel 70. Kleinkind

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Falc parkt unter den hohen Platanen vor der Schule. Ihre kahlen Äste ragen in den grauen Himmel und verknoten sich dort zu hölzernen Geschwüren. Ich stochere mit einem Fuss in einer Pfütze, bis er endlich den Motor ausschaltet und mein Turnschuh völlig durchnässt ist. 

"Wie war dein Tag?", fragt der Kommissar, als er mir mit einem warmen Lächeln die Beifahrertür öffnet und so tut, als hätte er meinen Fall nicht schon vor zwei Tagen abgegeben. "Ganz gut", murmle ich wahrheitsgemäss und lehne mich gegen das warme Polster. "Anstrengend."

"Wie geht es deinem Kopf?"

"Okay."

Falc sieht zu mir rüber. Seine dunklen Augen mustern mich beunruhigt.

"Was heisst das?"

"Nichts, sorry. Mir geht's gut", antworte ich rasch, als ich meinen Fehler bemerke. Okay ist nie die richtige Antwort für Falc, das sollte ich eigentlich mittlerweile gelernt haben.

"Es ist auch in Ordnung, wenn es dir nicht gut geht, Tres. Du musst es mir nur sagen", erwidert er ernst, den Blick auf die breite Strasse vor uns gerichtet.

"Nein, mir geht's gut. Ich...bin nur ziemlich fertig irgendwie."

"Verständlich", meint Falc sanft. "Willst du doch lieber nach Hause?"

"Nein", sage ich müde. "Will ich nicht."

Er sieht wieder zu mir rüber, tippt nachdenklich aufs Steuerrad.

"Gloria heisst deine Mitbewohnerin, oder? Wie läuft es mit ihr?"

Ich zucke bloss mit den Schultern. Keine Ahnung wie es mit Gloria läuft. Sie schwankt zwischen unübersehbarer Verachtung für mich und plötzlicher Freundlichkeit. Ihre Freunde sind nett, sie stellen keine Fragen, reden auch nicht sonderlich viel mit mir. Ich stehe in den Pausen stumm zwischen ihnen, aber das ist ohnehin viel mehr, als ich die letzten drei Jahre hatte. 

"Ich kann auch alleine einkaufen gehen", murmle ich schliesslich in die Stille, als er ins Einkaufsviertel einbiegt. 

"So weit sind wir noch nicht", antwortet Falc bloss. Es tut mehr weh, als es sollte. Er traut mir selbst das nicht zu, einkaufen. Genauso, wie mir Danny nicht zutraut, alleine mein Fenster zu öffnen oder alleine zu kochen. Ich hab eingekauft und gekocht seitdem ich vielleicht sieben war, alles gemacht, was Mama und Tom nicht hingekriegt haben und jetzt tun sie, als wäre ich ein Kleinkind, dem man nicht mal ein geöffnetes Fenster zutrauen kann.

"Du bist wütend", bemerkt der Polizist geistreich, als ich die Autotür hinter mir zuschlage. "Nein", entgegne ich genervt und ziehe die dünne Windjacke enger um mich. Er seufzt. 

"Es ist nicht so, dass ich dir das nicht zutraue", sagt er betont ruhig, als ob er mit einem Grundschüler reden würde. Ich lasse ihn stehen und wate durch die Pfützen, die sich zwischen Autos und Gehsteig gesammelt haben die Strasse entlang. Es dauert vielleicht eine halbe Sekunde, bis Falc mich eingeholt hat und am Arm packt.

"Komm auf den Gehsteig", meint er bloss.

"Das tut weh", konstatiere ich tonlos. Seine Hand liegt genau in meiner Armbeuge, wo die Haut und alles darunter von einem missglücktem Venenkatheter immer noch wund und blau sind. 

"Komm hoch, dann lass ich los", wiederholt er nachdrücklich. Ich tue, was er mir sagt, weil es wehtut und weil ich kein Drama machen will. Er lässt trotzdem nicht los.

"Hör auf damit", sagt er knapp. "Nur weil ich nicht mehr dein zuständiger Ermittler bin, kannst du dich nicht so verhalten. Ich hab's dir schon ein paar Mal gesagt, du bist kein Kleinkind mehr, also verhalt dich auch so."

"Dann behandle mich nicht wie ein Kleinkind", entgegne ich gereizt und versuche meinen Arm aus seinem Griff zu winden. "Ich habe nichts getan, ausser ein paar Schritte ohne dich zu gehen, krieg dich ein. Ich bin nicht dein Schosshund."

Falcs braune Augen mustern mich schweigend. Ich ducke mich weg, als er unvermittelt seine rechte Hand bewegt, aber es kommt nichts ausser Stille.

"Es tut mir leid", meint er schliesslich. "Du hast Recht, ich übertreibe, entschuldige."

Er lässt mich los, ich ziehe meinen Arm wieder an mich und laufe wortlos weiter. Falc hält mühelos mit mir Schritt. Anscheinend ist für ihn das Thema damit beendet.

"Gibt es irgendeinen Laden, in den du willst?", fragt er nach einigen Metern, als wir in die grosse Einkaufsstrasse einbiegen. Ich schüttle den Kopf.

"Dann lass uns einfach erst zu TK Maxx gehen oder so", schlägt der Kommissar vor und deutet auf das Logo des Modekonzerns auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Ich wünsche mir fast, dass er wütend genug geworden wäre, um mich direkt wieder nach Hause zu bringen, so wenig Lust habe ich auf das überfüllte Kaufhaus. Aber Falc überquert unbeirrt die Strasse, nicht ohne sich mindestens dreissig Mal nach mir umzudrehen natürlich. 

Drinnen ist es voll und laut. Falc greift nach meinem Arm, um mich in der Menschenmenge nicht zu verlieren und drückt dabei wieder auf die schmerzende Schwellung in meiner Ellenbeuge. Ich sage nichts dazu, bin aber erleichtert, als er mich im zweiten Stockwerk endlich wieder freilässt.

"Schauen wir erst bei den Jacken?", fragt der Polizist mit einem Blick auf meine Windjacke. Ich nicke abwesend und folge ihm durch die langen Reihen von Kleiderständern. Der Laden ist ziemlich voll für einen Donnerstagnachmittag, vielleicht ist er auch immer voll, ich bin hier bloss ein, zweimal gewesen. 

"Wie findest du den?", reisst mich Falc aus meinen Gedanken und hält mir einen Mantel hin. Das Preisschild hängt schief in der blauen Wolle. Das Teil kostet fast hundertfünfzig Euro.

"Zu teuer", sage ich knapp. Falc lächelt matt.

"Ich zahle ihn dir ohnehin, also vergiss den Preis, wir sind hier nicht grade bei Vuitton. Also, gefällt er dir, oder nicht?"

"Doch?", murmle ich überfordert und ziehe mit einer Hand halbherzig ein paar Jacken zur Seite. Ein paar Meter weiter kommt mir plötzlich jemand sehr bekannt vor. Nick steht zwischen ein paar jungen Menschen, sein blondes Haar ist zerzaust und seine Lippen wie üblich zu einem Lächeln verzogen. Seine Hand liegt auf der Schulter eines hübschen Mädchen mit dunklem Afro und noch dunklerem Eyeliner. Er sieht zu mir rüber und wieder weg.

"Tres?", unterbricht mich Falc und folgt meinem Blick. Es tut weh, irgendwie. Ich frage mich, ob er vielleicht doch eine Freundin hat. Sie würden jedenfalls gut zusammenpassen, besser als wir ohnehin. Wer würde das nicht.

Nick sieht wieder auf, unsere Blicke treffen sich. "Tres!", ruft er quer durch den Raum nach mir und drückt sich an seinen Freunden vorbei, um die paar Meter zwischen uns zu überwinden. Er legt einen Arm um meine Taille und zieht mich an sich, bevor ich überhaupt nachvollziehen kann, was er vorhat. 

"Hi", murmle ich überfordert, es klingt wie hm, und stütze mich an ihm ab, um nicht gleich gegen seine Brust zu stolpern. Die Leute schauen, aber Nick lächelt bloss. Er trägt ein wenig Eyeliner, den ich nur sehe, weil er direkt vor mir steht und ich einfach nicht wegsehen kann.

"Was wollt ihr einkaufen?", fragt er ohne mich loszulassen. Seine Freunde beobachten uns interessiert aus einigen Metern Abstand. Ich starre nervös auf den Boden.

"Frag lieber, was wir nicht einkaufen müssen", bemerkt Falc trocken und hängt eine Jacke zurück an die Stange.

Nicks Mundwinkel wandern nach oben und er legt eine Hand auf meine. Sie verschränken sich ohne mein Zutun.

"Braucht ihr Hilfe?"

Jetzt bin ich krank, 10/10 :,)

Was haltet ihr von Falcs Umgang mit Tres? Übertreibt er oder macht es angesichts der Umstände Sinn?

Diese Woche geht es auch endlich mit Luis weiter! :)

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