Kapitel 6. Immer stark

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Julia

"Franco, wir brauchen Naloxon", ist das Erste, was mir über die Lippen kommt.

"Opioide?"

"Heroin, glaube ich. Aber ich finde keine Injektionsspuren...", murmle ich, während ich mit den Fingern über die mit blauen Flecken übersäten Arme fahre. 

Der Sanitäter runzelt die Stirn, während er die Spritze an den Venenkatheter ansetzt. "Vielleicht nasal. Wir sollten nachher eine Pharynxkontrolle machen", antwortet er dann knapp.

Er drückt dem Jungen das Beatmungsgerät auf Mund und Nase, während ich zuerst in den Muskel und dann durch den Zugang den Bolus injiziere. Alle Vitalparameter sinken viel zu schnell. Puls, Sättigung, Atemfrequenz stürzen, als ich sie überprüfe in den kritischen Bereich.

"Scheisse", murmle ich. "Er kippt mir hier weg, wenn das Zeug nicht langsam wirkt." Zuerst der Atemstillstand, aber seine Lungen werden jetzt ohnehin ventiliert. Ernsthafte Sorgen macht mir der ziemlich sichere Herzinfarkt, wenn die zentrale Atemdepression sich ausweiten würde. Mein Kopf ist randvoll mit aussichtslosen Ideen, wie ich den Jungen noch lebend bis ins Klinikum  bringe. Wenn überhaupt bis zum Krankenwagen. 

"Krass, dass er jetzt noch lebt, wenn er vor mehr als einer Viertelstunde das Zeug genommen hat", murmelt Franco und ich merke, dass auch er nicht mehr wirklich an das Überleben unseres jungen Patienten glaubt.

"Wenn das Naloxon endlich anschlägt nicht...", erlaube ich mir einen matten Hoffnungsschimmer, aber er seufzt bloss leise. Ich ziehe eine weitere Dosis auf, warte jedoch noch mit dem Verabreichen. 

"Er hat noch Alkohol im Blut...", beginne ich und blicke in die wenig überzeugten Gesichter um mich herum. 

Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm auf dem rote Signale mich auf den drohenden Atemstillstand machen. Sehe zu wie die Zahlen auf Null zu wanken.

Und wieder hoch.

Es wirkt. Endlich.

Andreas

Als ich die Augen aufschlage und in die grellen weissen Lichter über mir blicke, weiss ich nicht was schlimmer ist. Die Albträume, die immer noch wie dunkle bedrohliche Fetzen über mir hängen, oder das Leben. Vielleicht bin ich ja auch einfach nur immer noch in einem Albtraum, liege eigentlich noch sterbend auf den Stufen der Schule. Ein Albtraum in einem Albtraum. 

"Er ist wach", höre ich jemanden neben mir sagen, und im nächsten Moment beugt sich jemand in einer Rettungsdienstuniform über mich. 

"Hi Andreas, wie fühlst du dich?", fragt die junge Frau von der ich gehofft hatte, sie nie wieder zu sehen, überhaupt die ganze Welt nie wiederzusehen. Nicht als die Person, die ich bin wenigstens.

Ich sage nichts, blicke nur ziellos ins Leere und versuche die Tränen der Verzweiflung zurückzuhalten, die wie eine alles ertränkende Woge über mir zusammenschlägt. 

"Andreas, schau mich bitte einmal an", versucht die Ärztin es nochmals, ohne Erfolg. Ich kann sie nicht ansehen, ohne dass ich zusammenbreche. Muss stark bleiben, stark, immer stark.

"Andreas,", setzt sie nochmals an, doch dieses Mal unterbreche ich sie. "Bitte, hören Sie auf damit", sage ich mit schmerzendem Rachen. Es fühlt sich an, als wäre überall darin Säure, als wäre alles wund und kaputt.

Ich ertrage es nicht, meinen Namen zu hören. Und zu wissen, dass nun alles wieder genauso wie vorhin weitergehen wird. Es ist wie eine Wand, die sich in unendliche Höhen über mich erstreckt und an der ich nie, nie, nie vorbeikommen werde. 

"Wie... lange war ich...weg?", frage ich in die Stille, verkrampft darum meine Stimme klar zu halten. 

"Nicht allzu lange, zehn Minuten vielleicht. Wir fahren jetzt gleich los ins Krankenhaus."

Im selben Moment höre ich das Klicken der Tür und dann wird der Krankenwagen mit Licht geflutet. Im Licht sehe ich den Schemen eines Mannes in Uniform das Auto betreten. Die Polizei, natürlich, ich hätte es wissen müssen.

Nachdem der Polizist die Tür wieder geschlossen hat, tritt er an mich heran und nun erkenne ich sein Gesicht. 

Es ist derselbe wie gestern. 

Ich sehe, wie mehrere Emotionen gleichzeitig über sein Gesicht huschen, als er mich erkennt.

"Ich hatte zwar gehofft dich zu finden, aber nicht so. Wirklich nicht so...", murmelt er leise und greift nach meiner Hand. Schnell versuche ich sie wegzuziehen, aber sie scheint mir ebenso wenig wie meine Stimme zu gehorchen. 

Er fährt mit dem Finger vorsichtig den Narben an meinem Handgelenk entlang, dann treffen unsere Blicke sich unfreiwillig.

"Danke für die Jacke", sagt er mit einem plötzlichen Lächeln.

"Tut mir leid wegen des Geldes...", flüstere ich. 

"Verdammt Andreas. Das Geld ist mir egal. Aber dein Leben nicht, verstehst du?"

Ich schüttle den Kopf, was bloss dazu führt das Kopfwehwellen sich wie nach einer gewaltigen Detonation in meinem Kopf ausbreiten.

"Ich kenne dich praktisch nicht, aber du kannst dein Leben nicht einfach wegwerfen. Du bist nicht egal, Andreas."

"Sie haben bloss Recht damit, dass Sie mich nicht kennen...", beginne ich und schlucke den Blutgeschmack runter. "Bloss damit."

Wurde versehentlich zurückgezogen, sorry!

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt