Kapitel 85. Irrational

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Der Staatsanwalt räuspert sich. Jugendstaatsanwalt, um genau zu sein. Er macht keinen Hehl daraus, dass er kein sonderliches Interesse an diesem Prozess hegt, die milde Verachtung, die in Mimik und Intonation mitschwingt, macht mir deutlich, dass das hier für ihn mehr Beruf als Berufung ist.

"Herr Stern", fragt er mild. "Würden Sie sagen, Sie sind oft wütend?"

"Nein", erwidere ich. Ich wünschte, Falc würde zurück in den Raum kommen, seine Anwesenheit beruhigt mich in der Regel etwas. Er hat die Dinge im Griff. 

"Können Sie sich daran erinnern, wann Sie zuletzt wütend waren?"

"Nicht...konkret", sage ich zögerlich. Seine psychotherapeutische Weise zu reden, täuscht nur schlecht darüber hinweg, dass er mich einfach zu unvorsichtigen Aussagen hinreissen will. 

"Sind sie denn oft verzweifelt?"

Meine Anwältin runzelt die Stirn, ich zucke bloss mit den verspannten Schultern. Was für eine dumme Frage. 

"Ich glaube, es ist schwer in meiner Lage nicht verzweifelt zu sein."

Er scheint sich damit zufriedenzugeben.

"Waren Sie schon mal an einer körperlichen Auseinandersetzung beteiligt, Herr Stern?"

"Ja", erwidere ich betreten, denke an Tom. Prügeleien in der Schule. Einmal auf der Strasse, als ich Gras vertickt habe. "Unfreiwillig."

"Aber Sie haben zugeschlagen?"

"Ich weiss nicht", erwidere ich zögernd. Seine Fragen sind teils so zusammenhangslos, dass ich Mühe habe, die Fallstricke zu erahnen. Das ist der schlimmste Teil, hat die Anwältin gesagt, danach wird es besser. 

"Sie müssen doch wissen, ob Sie zugeschlagen haben?", wiederholt der Staatsanwalt. 

"Es ist schon eine Weile her. Aber ich bezweifle, dass ich je jemanden bewusst geschlagen habe."

"Aber unbewusst vielleicht?"

"Nicht, dass ich wüsste", erwidere ich matt. Es klingt schnippisch, aber mir fällt keine andere Antwort ein. Verprügelt werden läuft nicht nach Schema ab. Es ist chaotisch, zuckende Arme und Beine, wackelnder Blick und um keinen Preis dem Boden nah kommen. Oft kann ich mich nur noch daran erinnern, dass es wehgetan haben muss. 

"Haben Sie in dieser Zeit je Drogen konsumiert?"

"Nein."

"Was ist mit September letzten Jahres, als Sie wegen eines Suizidversuchs ins Universitätsklinikum eingeliefert wurden?"

"Ja, dafür schon."

"Herr Stern, wissen Sie, wie man Heroin spritzt?"

"Ja", erwidere ich lapidar. Aufkochen mit Ascorbinsäure. Zigarettenfilter. In die Vene. 

"Dann frage ich mich, warum Sie sich an diesem Tag dazu entschlossen haben, es stattdessen zu schlucken?"

"Ich...hab gedacht, das reicht. Ich hab extra mehr genommen", sage ich müde, reibe mir mit dem Unterarm über die tränenden Augen. "Ich wollte nicht spritzen. Das...hat mich immer irgendwie angeekelt. Und ausserdem hatte ich Angst, dass ich es nicht hinkriege, mit der Vene und so."

"Aber Sie wussten doch bestimmt auch, dass sich damit kaum Überdosieren lässt?"

"Nicht wirklich", erwidere ich bloss. "Meine Mama hat's immer gespritzt."

"Für etwas gibt es ja das Internet. Würden die meisten jungen Menschen in Ihrem Alter nicht einfach rasch googeln, was die einfachste Methode ist?"

"Ja, wahrscheinlich. Ich hatte gar nicht genug...Platz in meinem Kopf, um darüber nachzudenken, glaub ich. Ausserdem war mein Handy da eh kaputt."

SchattenfallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt