Kapitel 7.

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"Sie kennen mich nicht. Sie haben mich nie gekannt. Sie werden mich mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit auch nie kennen. Wie können Sie dann glauben, dass ich mein Leben wegwerfe? Wie können Sie sagen, dass die Welt sich um mich sorgt? Die Welt kümmert sich einen Scheiss um mich. 

Ich werfe mein Leben nicht einfach weg. Ich habe um dieses verdammte Leben gekämpft, wissen Sie? Um ein ganzer Jahrzehnt, 3650 Tage, 87600 Stunden, 5256000 Minuten, 315360000 Sekunden habe ich gekämpft, ich habe sie gezählt. Und diese 315360000 Sekunden, -jede einzelne von ihnen, haben mir geschmerzt, mich kaputtgemacht, verstehen Sie? Nein, nicken Sie nicht. Sie verstehen gar nichts.

 Sie denken, dass ich Hilfe hätte suchen sollen. Wissen Sie was? Das habe ich getan, immer und immer wieder. Aber die Tatsache ist, dass die meisten Menschen lieber wegschauen, statt Verantwortung zu übernehmen. Es ist immer nur schlimmer geworden und wieder liege ich auf einer Liege, zwischen Polizei und Rettungsdienst und wieder wird sich nichts ändern. Sie haben meine Handgelenke festgeschnallt, wohl aus Furcht, dass ich mich umbringe? Sie haben Recht. Und glauben Sie mir entweder töte ich mich selbst auf Flucht vor dem Leben oder das Leben tötet mich. "

Der letzte Satz hängt wie eine Warnung in der Luft, umhüllt von absoluter Stille. Mein Rachen fühlt sich wund an, Hitze rauscht wie ein Lavastrom durch meinen Hals. Ich kann nicht mehr atmen. Irgendetwas stimmt nicht. Ich lasse es stumm geschehen. 

"Glaubst du nicht, wir könnten dir helfen? Wir...", beginnt der Polizist, aber er bricht ab, als er meinen Gesichtsausdruck sieht.

"Ich muss dich jetzt untersuchen, Andreas", fährt die Notärztin mit einem Anflug von Trauer in der Stimme fort.

"Nein", krächze ich. "Ich will dass ihr...mich versteht..."

"Wir können später reden Andreas. Jetzt muss ich nach deinem Körper schauen...", sagt sie, während sie versucht meinen Blick zu fixieren.

"Es...w..ird...k..ein später...", flüstere ich kaum hörbar, während ich spüre, wie das beklemmende Gefühl der Ohnmacht mich einlullt. Ich kriege keine Luft mehr, alles schwirrt, alles juckt, alles schmerzt.

Sterben ist nicht schön.

Aber das Leben ist noch viel hässlicher.

"Was?", fragt die Ärztin und ich erkenne, wie ihr Gehirn langsam den Wortfetzen einen Sinn verleiht. Im selben Moment, als sie zu fragen wollen scheint, erklingt ein schrilles Piepsen vom Monitor her. Und sie begreift, ihre Augen weiten sich, sie greift beinahe panisch nach etwas.

Sterben ist egoistisch.


Julias P.o.V

"Anaphylaxie!", fluche ich überrascht und murmle leise. "Er wusste es. Er wusste es und hat nichts gesagt."

Ich drücke dem Jungen die Sauerstoffmaske wieder aufs Gesicht und schüttle verzweifelt den Kopf.

"Wir müssen den Auslöser finden. Gib mir das H1-Antihistaminikum."

Der Junge ist bereits zyanotisch, der Puls flach und frequent, kaum fühlbar, der Blutdruck ist abermals extrem niedrig.

"Julia, glaubst du es war das Naloxon oder sonst was?", ruft mir Franco zu, dessen eiserne Ruhe mich immer wieder überrascht.

"Keine Ahnung. Vielleicht auch die Schmerzmittel."

"Setzen wir das ab und fahren in die Klinik. Wenn es sich bessert..."

"Ja", antworte ich knapp, während ich den Polizisten zur Seite schiebe, der die ganze Zeit über, wie erstarrt die Hand des Jungen gedrückt hat.

"Er hat es gewusst. Er wusste das der Schock kommt und er hat trotzdem still gehalten", flüstere ich ihn die Stille, während ich die Werte beobachte. 

"Julia..."

"Nein, lass nur..."

"Julia. Er wird wieder stabil. Ich glaube wir haben ihn!"

So schnell ich kann, drehe ich mich um und erkenne, wie sich die Linie auf der Anzeige allmählich wieder gegen oben bewegt.

Ein erleichtertes Seufzen entrinnt meiner Kehle. "Wir machen einen Bodycheck. Ich will nichts, aber auch gar nichts übersehen. Keine Überraschungen mehr."

Ich beginne damit, vorsichtig den Kopf des Jungen abzutasten. Mehrere blutverkrustete Platzwunden, eine noch relativ neu, wohl vom Sturz, die anderen zwei an der Schläfe und am Hinterkopf.

"Woher kennen Sie den Jungen?", frage ich ohne aufzublicken den Polizisten, der nun wieder neben mir steht.

"Vom gestrigen Einsatz. Auch ein Suizidversuch. Er ist von einer Brücke gesprungen."

"Von welcher Brücke?"

"Die Brücke hier im Quartier. Mein Kollege hat ihn rausgeholt, aber er ist abgehauen, bevor der RTW da war."

"Abgehauen...", murmle ich fragend, während ich zufrieden feststelle, dass beide Pupillen isokor sind und auf Licht reagieren.

"Er ist ein guter Läufer."

Sanft streiche ich über die verschiedenfarbigen Hämatome auf dem knochigen Gesicht. Sie ziehen sich über die Nase, die Wangenknochen, das Kinn und die Schläfe. Jemand muss ihn hart geschlagen haben. Sehr hart.

"Franco, schau mal...er muss das Heroin geschluckt haben. Es gibt Verätzungen im Mundraum..."

"Ein Anfängerfehler. Er muss ihm das Leben gerettet haben", meint der Sanitäter und ich höre Erleichterung in seiner Stimme.

"Wisst ihr, wie der Junge mit Nachnamen heisst?", fragt der Polizist, der den Jungen ebenfalls mit besorgter Miene mustert.

"Stern. Andreas Stern", murmle ich, während ich vorsichtig das blutdurchnässte T-Shirt auftrenne. Ein Meer aus blauen Flecken kommt darunter zum Vorschein.

"Das kommt nicht alleine vom Sprung.", spreche ich den Gedanken aus, der zwischen allen in der Luft hängt.

"Schläge oder Tritte. Der Junge muss schwer misshandelt worden sein. Glaubt ihr es ist häusliche Gewalt?", antwortet Franco, der sichtlich schockiert aussieht. Wie wir alle.

"Oder Mobbing", stellt der Polizist einen weiteren Verdacht in den Raum. "Ich werde ihn mal bei der Zentrale abfragen. Die anderen Personalien auch, -die der Gaffer."

"Erstaunlich das ihm niemand geholfen hat...auch was er erzählt hat...er muss wirklich verzweifelt sein", sagt Franco, die Augen auf unseren jungen Patienten gerichtet.

Der Polizist streicht sanft über die blutverschmierten Haare und ich erkenne, wie sehr ihm das Schicksal des Jungen nahe geht.

Wir würden nicht wegsehen.

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