Kapitel 58. Schlaf, Kindlein, schlaf

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Nick macht mir Griessbrei. Konzentriert löffelt er Preiselbeeren aus einem Glas auf meinen Teller, wo sie tiefrote Striemen hinterlassen, die vor meinen müden Augen verschwimmen.

"Das sieht schön aus", bemerke ich leise. Nick lächelt, ohne aufzusehen.

"Schön genug ums zu essen?"

"Danke", antworte ich bloss. Nicks geflochtene Strähne schwingt einmal zur Seite und zurück, als er mir die Mahlzeit hinschiebt und sich mit einem Seufzer auf den Stuhl neben mir sinken lässt. Seine braunen Augen betrachten mich besorgt, als ich den silbernen Löffel quälend langsam anhebe und tief im warmen Getreidebrei versenke. Er ist zu schwer, zieht meine Hand mit sich runter wie ein Bleigewicht, bis mein Handgelenk auf der Tellerkante aufschlägt. Nick greift geistesgegenwärtig nach der anderen Seite des Porzellanteils, um es am Kippen zu hindern.

"Geht's?"

"Bloss so müde", murmle ich und schaffe es endlich den ersten Bissen zu schlucken. So entsetzlich müde, es fühlt sich an, als würde ich in kleine, gewichtslose Teilchen zergehen.

"Ich weiss", sagt Nick sachte und streicht mir über die freie Hand. Seine Finger sind so warm, dass mein Körper sich augenblicklich bewusst wird, wie ausgekühlt er selbst ist und erbärmlich erschaudert. Er bemerkt es natürlich, ich sehe es an der Art und Weise, wie sein Blick für eine halbe Sekunde in der Luft hängen bleibt. Ich nehme noch einen Löffel voll mit Griess, schlucke ohne ihn anzusehen.

"Es schmeckt gut", murmle ich. Es schmeckt okay. Gut, wenn ich zu sehr dran denke, dass es Essen ist.

"Ja?" Nick zieht halbherzig die Mundwinkel hoch, als er auf den halb leeren Teller runtersieht. Ich nehme noch einen Löffel, während er mich wortlos aus schmalen, braunen Augen beobachtet. Noch einen. Der Teller ist fast leer, der Griessbrei praktisch grau.

"Kann ich ein Foto von dir machen?"

Verdutzt lasse ich den Löffel sinken.

"Was?"

"Ein Foto", wiederholt er und hält mir sein entsperrtes Handy hin. Sein Hintergrund ist ein Bild von ein paar verschwommenen Menschen, die lachend vor einem Supermarktregal posieren.

"Wozu?"

Sein weisser Eckzahn blitzt auf, als er verschmitzt grinst und seinen Stuhl ein Stück von mir wegrückt, um seine Handykamera auf mich zu richten.

"Du kannst Falc beweisen, dass du isst und ich kann mit meinem Freund angeben."

"Kaum", protestiere ich halbherzig und schiebe mir einen weiteren Löffel in den Mund. Nick drückt trotzdem ab.

"Hier, siehst du, du siehst gut aus."

"Ich sehe tot aus."

Er schnaubt. "Ja, hat vielleicht was mit deinen Essgewohnheiten zu tun."

Wortlos schlucke ich den letzten Rest Griessbrei, er klebt wie Leim in meiner Speiseröhre. Ich hätte gerne Zahnpasta, um den Geschmack von Essen aus meinem Mund zu vertreiben und nur beissendes Menthol zu schmecken. Menthol kommt nicht wieder hoch. Nick sieht mich an, als wüsste er genau, was in meinem Kopf vor sich geht.

"Tres, warum machst du das?"

"Was?", murmle ich müde. Er verdreht die Augen. "Nicht essen. Willst du zurück ins Krankenhaus?"

"Nein, auf keinen Fall."

Nick schliesst für einen Moment die Augen, bevor er mit einem Finger auf den leeren Teller vor mir deutet. "Nimmst du noch ein wenig?"

"Ich kann nicht mehr", gebe ich zu. Er nickt wenig überrascht und schiebt mir den Tee hin, in den er absichtlich viel Milch gegossen hat. Seine dunklen Augen wandern einmal über meine Arme und ich weiss genau, wonach er Ausschau hält.

"Ich ritze mich nicht", sage ich knapp. "Okay", sagt Nick leise, sein linker Mundwinkel wandert kaum merklich nach oben und entblösst das winzige Grübchen.

"Du solltest schlafen", meint er schliesslich bloss. "Komm, ich bring dich in mein Zimmer."

Nicks Zimmer ist gross und voll mit Pflanzen. Viel mehr bekomme ich nicht mit, ehe er mich sanfter Gewalt dazu zwingt, mich neben ihn aufs Bett zu setzen. Er ist beunruhigend hübsch, fällt meinem müden Hirn auf, mit den blonden Strähnen und ernst dreinblickenden dunklen Augen. Ich senke elend den Blick, als er mich bloss wortlos ansieht. Wahrscheinlich begreift er erst jetzt, wie hoffnungslos ich bin, - wir zusammen sind.

"Es tut mir...-"

Nick hebt mein Kinn an und küsst mich, bevor ich den Satz beenden kann. Nur für einen Augenblick, dann löst er sich wieder und lässt mich perplex und mit dem Geruch von Tee auf den Lippen zurück.

"Leg dich hin und schlaf ein wenig", sagt er bloss und zieht die Decke über meine Beine, obwohl ich immer noch sitze. Es fühlt sich an wie ein Abschied, als er aufsteht.

"Nick", bringe ich hervor. Er hebt die Augenbrauen. "Ja?"

"War das ein Abschiedskuss?"

Er sieht mich für einen Moment lang irritiert an, dann lässt er sich wieder zu mir aufs Bett fallen, nah genug, dass seine Knie praktisch auf meinen Beinen zu liegen kommen.

"Natürlich nicht, du Idiot. Du brauchst wirklich dringend Schlaf."

"Bleibst du hier?", murmle ich, als er mich augenverdrehend in die Kissen drückt und mir dabei so nahe kommt, dass ich sein Shampoo wieder riechen kann. "Hier?", fragt er belustigt, als mir dir Augen zufallen und die Welt um mich in bedeutungslose Fetzen zerfliesst.

Ich wache davon auf, dass sich etwas neben mir bewegt. Die Matratze verformt sich neben mir und lässt meinen Kopf einen Zentimeter zur Seite rutschen. Als ich blinzelnd die Augen öffne, sitzt Nick aufrecht neben mir im Bett, das blonde Haar zerzaust. Nur Sekunden später höre ich die Zimmertür mit einem Knarren aufgehen.

"Dein Mitbewohner hat mich reingelassen", sagt Falc knapp. "Warum zur Hölle bist du nicht auf diese Adresse gemeldet? Ich musste deinen Eltern auf die Arbeit anrufen, um zu erfahren, wo du wohnst. "

"Hab ich einfach noch nicht gemacht", flüstert Nick rücksichtsvoll und fährt mit einer Hand durch mein Haar, bis meine Lungen für einen Moment den Geist aufgeben.

"Ja mein Gott, höchste Zeit!"

"Sei leise, er schläft."

Der Kommissar seufzt. "Wie geht es ihm?"

"Ganz gut. Er hat gegessen und getrunken und jetzt schläft er schon seit ein paar Stunden."

"Er hat gegessen?", fragt Falc zweifelnd und mir wird augenblicklich übel. Er weiss es. Natürlich weiss er es. Er muss mich dafür hassen, dass ich ihm immer Ärger bereite.

"Ja, Griessbrei", bemerkt Nick leise, eine meiner Strähnen noch immer um seinen Finger gewickelt. Der Polizist sagt nichts mehr, aber ich spüre seinen nachdenklichen Blick auf mir ruhen, bis er sich schliesslich kaum hörbar räuspert.

"Nick, lass uns für einen Moment rausgehen. Ich halte nicht gerne Standpauken vor schlafenden Menschen."


Was haltet ihr von den beiden zusammen? Und von Andreas' Problemen mit Essen, - woran liegt es eurer Meinung nach?

Wahrscheinlich kommt diese Woche noch das nächste Kapitel im anderen Buch :)

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