88. It will be allright.

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Julie fand sich, wie schon am Tag davor im Fitnessraum wieder und schlug auf den Boxsack ein. Wenn man ihr dabei so zusah könnte man denken der Boxsack habe ihr was getan, doch dass war nicht der Fall. Es war immerhin nur ein Boxsack. Ein Ledersack gefüllt mit Sand und nichts weiter. Wieder wusste Julie nicht ob es ihr was brachte sich so zu verausgaben, aber hellwach und deprimiert in ihrem Zimmer zu hocken brachte sie auch nicht weiter. Diese Nacht hatte sie etwas besser geschlafen, aber wieder nicht ausreichend lange und so war sie wieder um sechs Uhr morgens alleine und schlug sich die Seele aus dem Leib. 

Frisch geduscht und hergerichtet fand sie sich eine dreiviertel Stunde später im Essenssaal wieder. Die Meetings begannen heute etwas später und so hatte sie noch Zeit. Ihren Laptop hatte sie vor sich aufgebaut und ging nochmal den ein oder anderen Bericht durch, während sie an ihrem Kaffee nippte. "Entschuldigung, das Frühstück beginnt erst um Acht Uhr." Julie zuckte kurz zusammen. Sie sah sich um und entdeckte die Person zu der die höfliche Stimme gehörte. Es war ein Junges Mädchen vielleicht grade achtzehn, die Julie unsicher anlächelte. "Das macht nichts. Ich warte einfach, wenn das ok ist." Das junge Mädchen sah sie verwirrt an. "Aber das dauert noch eine Stunde." sagte sie etwas geschockt. Julie lächelte amüsiert. "Ja ich weiß, aber hier zu sitzen ist viel spannender als alleine in meinem Zimmer. Es macht mir wirklich nichts aus, ignorieren sie mich einfach." Das Mädchen nickte, immer noch verunsichert und ging dann wieder ihrer Arbeit nach. Julie tat es ihr gleich. 

"Willst du dir nicht mal was zu Essen holen?" Wieder zuckte Julie zusammen. Dieses Mal war ihr  die Stimme aber ziemlich bekannt. "Warum erschrecken mich heute alle?" Seb lachte und setzte sich neben Julie, die gerade bemerkte, dass der Essenssaal mittlerweile gut gefüllt war. Anscheinend war sie so vertieft in ihre Arbeit gewesen, dass sie es nicht mal bemerkt hatte. "Arbeitest du eigentlich auch irgendwann mal nicht?" Fragte Seb, bevor er in sein Brötchen biss. "Äh nein eigentlich nicht." Seb schüttelte nur den Kopf. "Das ist aber ziemlich ungesund." "Ja sagt Charles auch immer. Aber es hat eben einen Grund warum ich so gut in meinem Job bin." "Auch wieder wahr." Julie nickte und wollte dann weiter auf ihrem Laptop tippen, doch Seb hielt sie davon ab. "Junge Dame gehst du dir jetzt bitte dein Frühstück holen?" Er zog ihr den Laptop weg und klappte ihn zu. Julie sah ihn etwas empört an, doch Seb machte nur eine Handbewegung die sie Richtung Buffet schickte. Widerwillig stand sie auf und folgte seiner Anweisung. Mit einem Brötchen, etwas Rührei und natürlich einem Kaffee kam sie zurück. "Zufrieden?" fragte Julie provokant und setzte sich wieder. Seb begutachtete alles genau. "Zu viel Koffein ist nicht gut für dich." und mit dem Satz gesellte sich Julies Kaffee nun auch in Gefangenschaft zu ihrem Laptop. "Eyyy..." gab Julie enttäuscht von sich was Seb ein Lachen entlockte. "Was hab ich dir getan?" fragte sie schmollend und schob sich ein Stück Rührei in den Mund. "Gar nichts. Aber Charles hat gesagt, ich soll ein Auge auf dich haben, also hab ich das auch." "Verdammter Charles." brummte Julie. "Er liebt dich eben." "Und das hat mich bis jetzt um meinen Laptop und meinen Kaffee gebracht. Ich weiß nicht ob sich das Lohnt." Scherzte sie. Seb antwortete nur mit einem herzlichen Lachen während er genüsslich Julies Kaffee schlürfte und Julie ihn beleidigt dabei beobachtete.

Julie war gerade ihren Rennanzug losgeworden und saß nun alleine in einem kleinen Raum, während sie gedankenverloren an die Wand starrte. Die Testfahrten hatten ihr gut getan, haben ihr sogar Spaß gemacht. Die Wirkung die ein herunter geklapptes Visier und das laute grölen eines Motors hatten, war wirklich verblüffend. Man blendet alles aus und der Motor ist so laut, dass man nicht mal seine eigenen Gedanken hören kann. Man ist wie im Tunnel und genießt einfach nur völligen Frieden.

"Hey. Alles ok?" Julie wurde aus ihren Gedanken gerissen und zuckte zusammen, heute schon das dritte Mal. Seb stand im Türrahmen und sah sie besorgt an. Schnell schüttelte Julie alles ab und setzte ihre fröhliche Art wieder wie eine Maske auf. "Ja alles gut Seb. Nur etwas müde. Dafür muss ich wohl dir, dem Kaffee-Klauer die Schuld geben." Witzelte sie, erntete aber nicht viel Zuspruch von dem Deutschen. Er ging auf sie zu und schloss die Tür hinter sich. "Du brauchst für mich nicht so zu tun, als würde es dir gut gehen. Ich sehe, dass was nicht stimmt." Julie fühlte sich für dieses Gespräch absolut nicht gewachsen, also tat sie das was sie am besten konnte, leugnen. "Nein es geht mir wirklich gut. Mach dir nicht so viele Gedanken. Die Energie brauchst du für wichtigere Sachen. Ich hab einfach nur zu wenig geschlafen." Julie hoffte, dass Seb es dabei belassen würde, doch er ließ nicht locker. "Julie, ich hab dich heute morgen gesehen." "Wo gesehen?" Fragte sie verunsichert. "Im Fitnessraum. Ich dachte niemand ist so früh da, doch du schon. Und so wie du auf den Boxsack eingeschlagen hast, kann ich mir sicher sein, dass es dir nicht gut geht. Du musst mir nicht sagen worum es geht, aber vor mir brauchst du dich auch nicht zu verstellen. Es ist ok wenn es einem mal nicht gut geht. Wenn du nicht willst musst du nicht mit mir reden, aber mit irgendwem solltest du reden." Seb schenkte ihr ein zaghaftes aber mitfühlendes Lächeln. Julie konnte nicht darüber reden. Es ging nicht. Nicht jetzt. Wenn sie darüber reden würde, müsste sie weinen und das wollte sie auf gar keinen Fall. Natürlich wusste sie, dass Seb irgendwo recht hatte, aber dafür war sie noch nicht bereit.
Sie wusste aber auch, dass Seb nicht nachgeben würde ehe sie irgendwas gesagt hatte. Es folgte ein langer Seufzer.
"Du hast recht. Es geht mir nicht gut. Das tut es um diese Zeit im Jahr nie. Ich kann nicht darüber reden, weil es mir dann nur noch schlechter geht. Und ich mir irgendwann vorgenommen habe meine Traurigkeit nur auf ein paar Tage im Jahr zu beschränken. Natürlich geht es mir an anderen Tagen trotzdem schlecht und an diesen Tagen versuche ich mich abzulenken. Ich mache den Leuten um mich herum etwas vor, um mir selbst etwas vorzumachen, in der Hoffnung, dass ich dann vergesse, dass es mir eigentlich schlecht geht. Ich war lange traurig und gebrochen und irgendwann habe ich beschlossen das eben nicht mehr zu sein. Es ganz zu ignorieren wäre natürlich dumm, also habe ich mir einen Zeitraum gegeben indem ich traurig und gebrochen sein darf. Dieser ist aber eben noch nicht. Es geht mir nicht gut, du hast Recht. Aber es ist ok, dass ich nicht ok bin. Und um dir und allen anderen die Bürde zu nehmen mich aufmuntern zu wollen, tue ich eben so als wäre alles in Ordnung. Also mach dir keinen Kopf und lass mich dir diese Bürde nehmen."
Seb musterte Julie und dachte lange darüber nach was sie gesagt hatte. Julie fragte sich worüber er solange nachdachte. Hatte sie was komisches gesagt? Hielt er sie jetzt für komplett bescheuert? Hatte das was sie gesagt hatte, überhaupt Sinn gemacht? Vermutlich würde sie es jetzt herausfinden. Seb nahm behutsam ihre Hand und drückte sie. "Das kann ich verstehen und ich bin sehr dankbar, dass du es mir erklärt hast aber eine Sache sehe ich anders." Julie sah ihn gespannt an. "Du brauchst mir gar nichts abzunehmen. Und mich um dich zu sorgen oder dich aufzumuntern ist auch keine Bürde, das mache ich gerne. Du musst dich von dem Gedanken verabschieden, dass du dich für alle aufopfern musst. Es ist immer ein geben und nehmen. Wir sind ein Team und als Team ist man für einander da." Seb streichelte ihr väterlich über den Kopf und sie merkte wie ihre Augen glasiger wurden, doch eine Träne schaffte es zum Glück nicht auf ihre Wange. "Danke Seb." Hauchte sie leise und Seb schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. "Nicht dafür. Das wird schon wieder." Julie konnte nicht in Worte fassen wie viel besser es ihr jetzt schon ging. "Hast du Hunger?" Julie nickte eifrig. "Dann komm, besorgen wir dir was zuessen." Die beiden landeten jeweils vor einem großen Teller Nudeln mit Carbonara und mampften fröhlich vor sich hin. Mit gefülltem Magen sah die Welt sofort etwas weniger düster aus.

I didn't see that coming...Where stories live. Discover now