Kapitel 52

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Panisch klammerte ich mich an meinen Stuhl fest. Was sollte ich jetzt machen?
In diesem Moment hatte ich wohl nur eine Option, und das war ausharren. Abwarten.
Wie bitteschön macht man das? Wie kann man einfach nur dasitzen und nichts tun, während alles zerbricht?
Meine Umgebung verschwamm zu grauem Brei. Nicht nur visuell, auch klanglich. Klar und deutlich teilte nur noch mein Atem das Chaos, wie ein riesiges Schiff die Wellen eines Sturms auf hoher See. Völlig unpassend fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert, das Gefühl, auf einer Fähre zu stehen. Meine Mutter rief mir irgendetwas zu, doch ich spürte nur ihre ängstlichen Arme, die um meinen Körper geschlungen waren und den Sturm in meinen Ohren. Einen Moment, den ich niemals vergessen werde. Die Fähre schaukelte schrecklich in den Wellen – und ich war glücklich an der frischen Luft, in den Armen meiner Mutter.
In meinem Atem hörte ich ebenso die Brandung der Wellen von letztem Januar, als ich mich in das eiskalte Wasser gewagt hatte.
„Du bist doch verrückt!", hörte ich innerlich das besorgte Lachen meiner Mutter, die warm eingepackt am Ufer des Severn stand. Ich hatte mich beeilen müssen. Nicht nur wegen den Temperaturen kurz über dem Gefrierpunkt, sondern auch, weil kurz darauf die Ebbe zugeschlagen hätte. Und weil meine Mutter ihren lang ersehnten Wales-Urlaub nicht eine Sekunde länger aufschieben wollte. Ich erinnerte mich an das geniale Gefühl, das mich mit Wasser verband. Das Wissen, dem Wasser einerseits überlegen zu sein, andererseits mit ihm zu einer Einheit verschmelzen zu können.
„Kämpft nicht gegen den Widerstand! Nutzt ihn, um euch abzustoßen! Werdet eins mit dem Wasser, oder verliert." Mein Trainer hatte uns das immer wieder eingebläut. So wirklich verstanden hatte ich es allerdings erst letzten Januar. Ich wurde eins mit dem Wasser. Mein Körper nahm die gleiche Temperatur an, wie das Wasser. Nur für einen kurzen Moment, als ich meinen Kopf untertauchte und für den Bruchteil einer Sekunde meine kompletten Gedanken nur noch Wasser waren. Sogar meine Uhr rückte für einen Moment in den Hintergrund, machte Platz für einen ganz unmagischen Zauber.
In meinen Atemzügen klammerte ich mich an diese glücklichen Erinnerungen, um an der Oberfläche zu bleiben. Um nicht zu ertrinken in dem Schwall von Angst und Unverständnis.
Als meine Sicht sich wieder klärte, fiel mein Blick auf den Hinterkopf meiner Mutter. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich jetzt einfach wieder in ihrem Armen liegen könnte, ohne mir über irgendetwas Sorgen machen zu müssen.
Ein leiser Seufzer entwich mir. Rasch sah ich mich um. Hoffentlich hatte mich niemand gehört.
Doch meine Sitznachbarn schauten alle mit apathischen Gesichtsausdrücken in die Menschenmenge. Etwas irritiert folgte ich ihren Blicken und sah, dass vor den Stuhlreihen ein Mann stand, der scheinbar zu den Versammelten sprach. Tausende Menschen mussten anwesend sein und trotzdem hörte man nur die schnarrend verstärkte Stimme des Erwachsenen. Ich war so in meinen Gedanken vertieft gewesen, dass ich sein Hervortreten gar nicht bemerkt hatte. Er musste wohl wichtig sein, sonst würde er dort nicht stehen.
Was eine Deduktion.
Immerhin war meine ironische innere Stimme noch immer vorhanden. Sogleich fühlte ich mich ein wenig geborgen.
Langsam hatte ich mich gesammelt und war wieder bereit, die Welt wahrzunehmen. Dafür brauchte ich natürlich einen Plan.
Meinen letzten Zehn-Fragen-Plan konnte ich jetzt wohl vergessen. Mist. Die Rätsel meiner ehemaligen Gegenwart interessierten mich immer noch brennend, aber sie hatten nun ja offensichtlich nichts mehr mit meinem Leben zu tun. Wenn ich ganz ehrlich war, musste ich auch die Vergangenheit ein wenig zurückstellen. Klar, sie war für den ganzen Schlamassel verantwortlich. Logisch gedacht war die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Zeitreise nun erst einmal ziemlich gering. Ich hatte keine Ahnung, ob das Radio überhaupt noch existierte und wenn ja, wo. Außerdem war unklar, ob Anna die „Fähigkeit" besaß. Ich meine, die Uhr war noch da. Aber die Uhr gehörte auch zu meinem Geist, und nicht meinem Körper.
Die Zeitlosen hatten irgendwann gesagt, mein Vater sei einer von ihnen. Wenn nun aber der Blonde mein Vater wäre, hatte ich dann überhaupt noch das „Zeitlosengen"?
Ich erkannte schnell, dass mich diese Frage nur verwirrter machte. Also sah ich nur einen logischen Plan, den ich verfolgen konnte. Ich musste herausfinden, was diese neue Zukunft ausmachte. Und, was sie ausgelöst hatte. Auch wenn das wieder Vergangenheit war, es schien mir der logische zweite Schritt. Als drittes blieb dann nur noch eins übrig: Was ich dagegen verdammt nochmal unternehmen konnte. Energisch ballte ich meine Hand zu einer Faust, die Hand mit der SmartWatch, in der sich ein kleines Hakenkreuz beständig drehte.
Teil Eins meines genialen Plans zur Rettung der Welt: Observation.
Meine neue Familie und ihre komischen deutschen Bekannten wirkten völlig erstarrt.
Vor ihnen stand ein ergrauter Mann, der Menschenmenge zugewandt, und redete. Die gigantischen Lautsprecher waren auf den Platz gerichtet, sodass es beinahe unmöglich war, auch nur ein Wort zu verstehen.
Die Zuhörer waren mucksmäuschenstill. In den Häusern schien sich auch nichts zu rühren, kein Licht war an.
Teil Zwei: Schlussfolgerung.
Ich musste mich auf irgendeiner Art Kundgebung befinden. Der Redner schien sehr angesehen zu sein. Es war wichtig, dass jeder einzelne Bürger die Rede hörte. Wir auf der Bühne nicht.
Brausender Applaus durchbrach plötzlich meine Gedanken. Die Menschenmenge war in einen Jubel ausgebrochen, der Redner nickte nur mit seinem Kopf und drehte sich zu uns um.
Wie eine Einheit standen alle um mich herum auf. Kurz verzögert beeilte ich mich, es ihnen gleichzutun. All diese merkwürdigen Rituale trieben mich noch in den Wahnsinn. Möglichst unauffällig linste ich zu meiner männlichen Begleitung hinüber, doch wie alle anderen mied er meinen Blick, vielleicht auch nur den generellen Augenkontakt der anderen.
„James David Hawthorne!", rief der Redner aus. Die Menge johlte auf. „Bekennen Sie sich zu der neuen Weltordnung?"
„Ich liebe sie wie mein eigenes Fleisch und Blut!", schrie mein Großvater mit seiner greisen Stimme zurück, die verstärkt über den Platz hallte. Sie hatte einen markerschütternden Klang, der mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich traute mich nicht mehr, zu meinen Seiten zu gucken. Nur allzu gern hätte ich die Reaktionen der anderen auf ihren Gesichtern abgelesen, das Entsetzen, die Furcht, vielleicht sogar die Euphorie. So blieb es mir nur, auf den kahlen Hinterkopf meines Großvaters zu starren, den hochroten Kopf des Redners zu begutachten und die kreischende Menge zu sehen, die mich eher an einen gierigen Schwarm von Aasgeiern erinnerte.
„So sind Ihnen Ihre Sünden vergeben!", erwiderte der Mann in einer Stimme, die selbst schon für das Militär zu barsch gewesen wäre. Die eher religiös angehauchten Worte hatten nichts Tröstliches, nichts Erbarmendes – sie waren einfach nur kalt und formell, so wie der hässliche graue Smog, der den Himmel verdunkelte.
Es folgte eine schreckliche hymnische Musik über die riesigen Lautsprecher. Meine Begleitung hakte sich bei mir ein und zog mich mit den restlichen Bewohnern Hawthorne Manors (wenn man das Herrenhaus überhaupt noch so nannte) von der Bühne. Es fühlte sich so an, als würde ich abgeführt werden.
Der Jubel der Menge klang spöttisch. Nicht nach Feierlichkeiten, sondern nach einem Festessen. Und wir standen auf der Speisekarte.
Es folgte eine schweigsame Rückkehr zu dem geköpften Haus. Anscheinend war alles vorbei, die Versammlung zerstreute sich. Keiner von unserer Formation brachte ein Wort hervor, bis sich die riesigen Torflügel des Landsitzes hinter uns schlossen.
„Was für eine ergreifende Zeremonie!", hörte ich schließlich den Deutschen mit abgehacktem Akzent sagen. „Otto, mein Sohn, magst du uns ins Kaminzimmer begleiten?", bat er meine blonde Begleitung. Otto musste wohl der Name sein, der zu dem grobschlächtigen Gesicht gehörte.
„Gern, Opa!", erwiderte dieser. Er drehte sich ein letztes Mal zu mir um, beugte sich vornüber und raunte mir etwas zu. „Wir verschieben ‚du-weißt-schon-was' auf später, ok?"
Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke. Das unvermeidliche Husten unterdrückend nickte ich. Mit einem verwegenen Grinsen ging er auf den älteren Mann zu.
Theresa mit ihrem Strahlen auf dem Kindergesicht stupste mich an. „Na wenn das nicht mal deinen Tag gleich Tausendmal besser gemacht hat!", lächelte sie.
Was war mit diesen ganzen Leuten los?
In meinem Augenwinkel sah ich, wie Elizabeth ihren Ehemann stützte und aus der Eingangshalle hinausbegleitete.
Mich an mein Vorhaben erinnernd eilte ich den beiden hinterher.
Omahh?", versuchte ich zu sagen.
Meine Großmutter funkelte mich mit ihren durchdringenden Augen an, auch mein Großvater blickte zu mir.
„Ähm, Opa, ich würde gern mit dir reden. Aus Interesse über... die Vergangenheit", sagte ich offen. Meine Stimme war gesenkt, in der Angst, belauscht zu werden.
„Was willst du denn wissen?", lachte Elizabeth, doch auch sie bemühte sich um einen leisen Ton. Ihr Blick huschte an mir vorbei zu der Gruppe an Deutschen, die allmählich den Raum verließ. James Blick hatte sich von ein wenig alarmiert zu interessiert geändert.
„Annabelle...", flüsterte er. Oh mein Gott. 

Hey! Frohe Weihnachten euch allen! Seht das neue Kapitel als kleines Weihnachtsgeschenk 😉 Ich habe zu Weihnachten einen TabletPC bekommen, der mit das Schreiben deutlich erleichtert (Ich kann jetzt überall schreiben, nicht mehr nur zuhause am Schreibtisch *-*). Auf jeden Fall noch schöne Ferien und ein gemütliches Rest-2017!
Vielen Dank übrigens für über 3000 Reads und knapp 800 Votes... Ihr seid verrückt! :*

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now