Kapitel 60

602 65 11
                                    


„Wie das?" „Es hat etwas mit deiner Existenz zu tun, Belle. So wie das kleine Mädchen 15 Jahre zurückgereist war, haben wir alle fünfzehn Jahre ein Fenster, das sich öffnet." 

„Wir vermuten, dass es mit dem Zeitfluss zusammenhängt", fügte Jerome hinzu.
Louis ergriff wieder das Wort. „Wenn wir zu der Metapher mit dem Fluss zurückkommen. Stell dir vor, ein Fluss windet sich durch eine Aue. Denk an die einzelnen Schlingen, die fast periodisch sind. Wenn man sie nun mittig durchstechen würde, dann kommt man am schnellsten an zwei Punkte, die linear betrachtet wenige Schritte voneinander entfernt sind. Folgt man aber dem Verlauf des Flusses, sind diese Stellen vielleicht 200 Meter voneinander entfernt." Er lehnte sich auf dem roten Sofa zurück und ließ seinen Kollegen weiterreden.
„Wie gesagt, Zeit ist nicht linear. Du befindest dich normalerweise in dem fließenden Strom, während wir gestrandet sind. Wir sitzen auf dem Land und wählen die kürzeste Strecke. Doch ab und an müssen wir den Fluss kreuzen und bekommen die Gelegenheit, für wenige Meter in den Fluss einzutauchen. Dennoch sind wir auch hier nicht frei, wir obliegen einem linearen Zwang, der uns davon abhält, fortgerissen zu werden."
„Was bedeutet das?"
„Das heißt, dass wir für wenige Stunden, Tage, Wochen oder Monate zurück in deine Welt gelangen können", beantwortete der Farbige meine Frage.
„Aber ich dachte... ihr seid gestorben! Ihr habt eure Körper verlassen und seid in diesem... Zustand gefangen! Wie könnt ihr dann unter Menschen wandeln?", erwiderte ich. Unruhig rutschte ich auf meinem Sessel herum.
„Wir sind nicht tot. Ein Teil von uns hat überlebt. Es hängt mit dem Blut zusammen. Obwohl es uns getötet hat, oder zumindest unsere humane Form, hat es gleichzeitig einen Teil von uns am Leben erhalten und in den letzten Augenblicken in eine andere Dimension transferiert. Ein Selbstschutzmechanismus könnte man es nennen, ein Überlebensinstinkt. Wir sind zu Geistern geworden."
„Das beantwortet nicht meine Frage."
„Ich weiß, Annabelle, aber die Wahrheit, die du wahrscheinlich schon vermutest, ist nicht unbedingt rühmlich." Jerome warf Louis bei diesen Worten einen kalten Seitenblick zu. Dieser schien in seinem Sitz deutlich kleiner zu werden.
„Es... es war im Jahr 1998", begann Louis zögerlich und räusperte sich kräftig. „45 Jahre nach dem Unglück." Bedeutungsschwer schaute er mich an.
„Zum dritten Mal waren wir wieder frei und konnten unter den Lebenden wandeln. Und so befreiend es war, gleichzeitig hing die Gewissheit über uns, dass wir zurückkehren mussten."
„Warte", unterbrach ich ihn. „Erst möchte ich wissen, wie ihr in die Realität gelangt."
Die beiden tauschten schon wieder einen Blick aus.
„Das ist keine schöne Sache, Belle", erklärte Louis.
„Ich verdiene die Wahrheit", behauptete ich. Und in gewisser Weise schuldeten sie mir Antworten, ich hatte schließlich Kopf und Kragen für sie in der apokalyptischen Version von 2015 riskiert.
„Wir... wir übernehmen Körper."
Bei diesen Worten lief es mir kalt den Rücken hinunter.
„Ihr übernehmt Körper?", wiederholte ich angeekelt.
„Ja", bestätigte Jerome. „Wir tun dies nicht freiwillig. Reißt es uns in den Zeitstrom, könnten wir vermutlich nicht überleben. Es zieht uns sofort in menschliche Hüllen. Für kurze Zeit sind wir im Körper eines Menschen gefangen, völlig auf uns allein gestellt."
„Für wie lange?", hauchte ich entsetzt und wunderte mich, ob ich einem der Zeitlosen vielleicht schon einmal begegnet war.
„Für die Dauer unseres Aufenthalts. Manchmal sind es wenige Stunden, manchmal einige Tage. Im Jahr 1998 waren es acht Monate, zwei Wochen, fünfzehn Stunden, vier Minuten, einunddreißig Sekunden und elf Millisekunden."
„Und was passiert mit den Körpern, wenn ihr sie verlasst?"
Auf diese Frage bekam ich keine Antwort und ich ahnte Böses.
„Jedenfalls traf ich nach einem Monat eine wunderbare Frau. Ihr Name war Mary Richardson."
„Meine Mutter?" Verwirrt schaute ich den Fremden vor mir an, den Mann mit der dunklen Haut, der flachen Stirn, dem hervorstechenden Kiefer, den kantigen Gesichtszügen. War er mein Vater? Der Zeitlose, von dem ich abstammte? Sie hatten mir gesagt, dass ich eine von ihnen sei, aber dass ich meinen Vater tatsächlich kannte, und er mir gegenübersaß? Ich glaubte, zu träumen. Dann erinnerte ich mich, dass dies tatsächlich ein Traum war, dass ich in einer anderen Dimension war und mein Weltbild schon in den letzten Minuten gehörig umgeworfen worden war. Alles um mich herum war falsch, die roten Vorhänge sowie die Brise, die sie bewegte, die roten Sofas.
„Ich hatte den Körper eines ‚negros' übernommen. Eine Schande, dachte ich zunächst. Meine Haut war einmal weißer als Papier gewesen, doch ich wusste, dass sie schon lange verrottet war. Hauptsächlich hatte ich meine Zeit in Bars verbracht, und eines Tages stand diese bemerkenswerte junge Frau vor mir, ihr Lächeln fröhlich und ihre Augen schwer vom Gewicht des Lebens. Sofort fühlte ich mich zu ihr hingezogen, uns verband diese Melancholie. Sie erzählte mir von ihrem Geheimnis, ihrem Kind. Sie erzählte mir, wie sie es zu ihren Eltern gebracht hatte, zu denen der Kontakt für sie immer schwierig gewesen war. Wir redeten und teilten unsere Last. Eins führte zum anderen und sie wurde schwanger."
„Welches Kind?", hakte ich nach. Keins seiner Worte machte Sinn, wenn er wirklich über meine Mutter sprach. Ich war ihr erstes und einziges Kind.
„Ihr erstes Kind sei ein Junge gewesen, meinte sie. Als sie erfahren hatte, dass sie schwanger sei, war sie nicht bereit, Mutter zu werden. Sie schämte sich dafür. Abtreibung kam nicht in Frage, also wandte sie sich an ihre Familie. Nach langen Diskussionen erklärte sich ihre Mutter dazu bereit, den Jungen aufzunehmen. Die einzige Bedingung war, dass Mary ihn eines Tages aufsuchen würde, um ihm alles zu erklären."
Es traf mich wie der Schlag. Natürlich. Max George war mein Bruder. Er war es in der Parallelwelt gewesen, ohne dass sich seine Erscheinung verändert hatte. Deswegen hatte er mit Elizabeth gestritten und deswegen war meine Mutter nach Hawthorne Manor gekommen, selbst wenn dies gefühlt Jahrzehnte zurückzuliegen schien. Und es musste der Grund dafür sein, warum er so aufgebracht gewesen war. Wenn er mein Bruder war, dann waren seine Avancen nicht nur von mir sondern auch biologisch gestoppt – oder sollten es sein.
Ich dachte an seinen blonden, zerzausten Haarschopf und er wirkte wie aus einer anderen Welt. Eine fantastische Welt, in der ein Ausflug zum See der Höhepunkt der Woche war. Sein erschrockenes Gesicht, als ich den Kickstart hingelegt hatte. Das Feuer in seinen Augen, als er von der Widerstandsgruppe erzählt hatte. Und seine Facetten, seine so verständliche Wut. Ich vermisste mein Bruder und fürchtete mich gleichzeitig vor einem Wiedersehen.
Für einen Moment schloss ich meine Augen und atmete tief durch. Ich wünschte mir einfach, dass ich die Wahrheit gekannt hätte. Dass ich Max niemals als Jungen gesehen hätte, sondern als Bruder.
Die Erinnerung an unseren allzu peinlichen Kuss – meinen ersten Kuss – durchflutete meine Gedanken und ich wusste, dass ich ihn nicht loswerden würde. Jetzt schon gar nicht, wo ich doch nun endgültig den Riegel vor alle möglichen Szenarien geschoben hatte. Die Gedanken, die ich mir unbewusst verboten hatte zu denken, überfluteten mich, als ich sie bewusst beiseitedrängen wollte. Vor wenigen Sekunden hatte ich selbst nicht einmal gewusst, was ich gefühlt hatte, und nun war ich komplett verwirrt.
„Maxwell", stieß ich nach einer langen Pause aus, wie das Ausatmen eines Langstreckentauchers nach einer Atemübung.
„Ja, das war sein Name", stimmte Louis mir zu. „Mary hatte es nicht verarbeitet, obwohl es mehr als drei Jahre her gewesen war. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe, ich redete ihr gut zu. Als sie mir von der Schwangerschaft erzählte, bekam ich schreckliche Angst. Ich wusste nicht, wie viel Zeit mir noch blieb. Außerdem war ich schon so lange dort gewesen, dass es gefährlich wurde. Mir war klar, dass ich mein Kind nie sehen würde. Trotzdem arbeitete ich dagegen an. Half Mary, so gut es ging. Ich liebte sie, und sie liebte mich. Wir wohnten in einer Wohnung im Westen Londons und ich genoss jeden Tag. Bis..."
Er sprach es nicht aus.
„Als es Zeit wurde, verließen wir unsere Körper", sprang Jerome ein. „Zurück in unserer Heimatdimension war Louis verändert. Sein hellhäutiger Körper war diesem gewichen." Fast schon abschätzig zeigte er auf seinen Sitznachbarn. „Wir hatten über die Jahre gelernt, die Dunkelheit zu manipulieren, unsere Erscheinungsform zu verändern, um die Zeit zu vertreiben. Aber diese Veränderung ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Louis behielt die Erscheinung seines letzten Körpers, und du wurdest geboren."
„Ich hatte gedacht, dich nie kennenlernen zu können. Selbst fünfzehn Jahre später, im nächsten Fenster, hätte ich dich wohl kaum finden können, so ganz ohne Anhaltspunkte. Ich kannte weder deinen Namen, noch wusste ich ob du ein Junge oder ein Mädchen warst oder ob du überhaupt lebtest.
Doch nach einiger Zeit, als du ein Kleinkind geworden warst, tauchtest du hier auf. Beim ersten Mal war es ein riesiger Schock, vor allem, weil ich niemandem von dir erzählt hatte. Ich wusste sofort, dass du es warst. Wir sahen dich einige Male, aber du bist immer vor uns davongelaufen. Wir verfolgten dich, waren dir aber nie gewachsen. Du dachtest, wir wollen dir wehtun, du warst erschrocken. Irgendwann kamst du nicht mehr und wir überlegten uns, wie wir dich kontaktieren könnten. Denn du bliebst nicht verschwunden, manchmal bekamen wir auch tagsüber einen Blick auf dein Leben. Mal funktionierte es besser, mal schlechter. Nachdem du das letzte Mal gekommen warst, konnten wir dich klar und deutlich sehen.
In der letzten Nacht, in der du kamst, warfst du uns ein Rätsel auf. Du bist zu einem Ort gelaufen, der glühte. Es war ein Radio, das nur so vor Energie strahlte. Und so sehr wir es auch versuchten, es verschwand nicht. Du warst schon lange fort, aber das Radio war geblieben. Wir lernten, dass es etwas mit der Energie der Zeitreisenden zu tun hatte. Auch wenn wir es nicht vollständig verstehen, wissen wir, dass es dein Energiedepot ist. Dort speicherst du Kraft, um Zeitreisen zu können."
Jerome schaute mich fast schon mitleidig an.
„Ich weiß, dass das sehr viel ist."
Ich nickte benommen.
„Trotzdem, aus all unserer Forschung, unseren Überlegungen und Beobachtungen können wir dir so einiges mitteilen, was dir vielleicht noch weiterhelfen wird. Sehe alles Bisherige als eine Geschichtsstunde, eine viel zu lange Geschichtsstunde, und jetzt kommen endlich die lang ersehnten Praxistipps.
Du kannst Zeitreisen, aber es kostet dich viel Energie. Du musst dabei deinen Körper zurücklassen, da du wie wir bist. Trotzdem kannst du in der Vergangenheit eine Projektion deiner Selbst erzeugen. Wenn du keinen Energiespeicher nutzt, ist der Energieaufwand sehr hoch für dich. Deswegen war das Zeitreisen so schädlich für dich, ganz am Anfang. Bevor du dem Radio wieder Energie zugefügt hast.
Wir wissen nicht genau, warum der Energiespeicher schon vor dir da gewesen ist, aber wir vermuten, dass du ihn unterbewusst angelegt hast oder in der Zukunft anlegen wirst.
Deine Uhr in deinem Kopf. Nun, darüber haben wir lange gestritten. Manche sagen, sie sei dazu da, dass du deine Abhängigkeit von der Zeit nicht vergisst. Andere meinen, sie sei dazu da, damit du Zeitreisen abschätzen kannst.
Was dich von den wahren Zeitreisenden unterscheidet: Während du dich verausgabst, schenkt das Zeitreisen den wahren Zeitreisenden verlängernde Lebenskraft."
Ich versuchte mir alles so gut wie möglich zu merken, doch das Limit an Wissensspeicher hatte ich längst erreicht.
Louis ergriff wieder das Wort, er schien sich gefasst zu haben. „Belle, du musst uns retten. Es geht auch um unsere Zukunft, denn die veränderte Vergangenheit löscht uns allmählich aus. Einige von uns sind schon in der Leere verschwunden, und wir werden auch immer schwächer. So schmerzhaft unsere Existenz ist, die Nicht-Existenz erscheint uns noch viel unheimlicher. Mit deinen besonderen Fähigkeiten kannst du es schaffen, alles zu verhindern."
„Aber wie?", sprach ich aus, was mir auf dem Herzen lag. „Wie soll ich es schaffen, den Ausgang eines Krieges komplett zu verändern?"
„Weil die Lösung zu dem Problem ganz einfach ist", entgegnete Jerome. „Die Vergangenheit ist in ihrer ursprünglichen Form so, wie du sie aus deinen Geschichtsbüchern kennst. Sie wurde erst vor wenigen Tagen durcheinandergebracht."
Langsam begriff ich. „Zeitreisende", staunte ich.
„Das ist die einzig logische Erklärung", pflichtete er mir bei. „Dein Plan ist Folgender: Du musst die oder den Zeitreisenden identifizieren, und dann das Unmögliche tun: ihn auslöschen, bevor er oder sie die Welt verändert."
Mir war ganz mulmig bei den Worten, aber ich wusste, dass sie Recht hatten. Vorausgesetzt, dass alles stimmte, was sie mir erzählt hatten.
„Das ist alles", sagte Louis abschließend und schaute mir für eine Sekunde tief in die Augen.
Einen Wimpernschlag später waren die beiden spurlos verschwunden und totale Schwärze umgab mich.
Das Unendlichkeitszeichen war nicht das Einzige, was durch meinen Kopf schwirrte. Tausende Gedanken und Feststellungen verfolgten mich.
Max war mein Bruder.
Louis, der Zeitlose, war mein Vater.
Ich konnte Zeitreisen, aber war keine wahre Zeitreisende.
Eine zeitreisende Person hatte die Vergangenheit verändert. Und ich musste dort hingelangen, fünfundsiebzig Jahre vor meiner Zeit die Welt retten.
Als ich mich dazu entschloss, die Dunkelheit zu verlassen, waren meine letzten Gedanken bei dem kleinen Mädchen, dessen Blut die Zeitlosen ausgesaugt hatten und welches kommentarlos zurückgelassen worden war.
Zweifel an den Wissenschaftlern kamen in mir auf, aber mein Verstand war schon längst andernorts. 

-

Und Herzlichen Glückwunsch an alle, die schon vorher erraten haben, dass Belle und Max Geschwister sind. Hier habt ihr einen virtuellen Keks :D

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now