Kapitel 57

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   Vor uns, hinter der Glasscheibe auf dem Flur, standen drei Personen, eine Frau und zwei Männer. Und wir waren in dem „verbotenen" Raum, der Bibliothek des Vergehens. 

Ach du Scheiße, dachte ich, jetzt steckten wir in der Klemme. Mein Herz pochte wie verrückt.
„In die Bibliothek schleichen..." Der größere der beiden Männer, muskulös und mit gedrungenem Gesicht schaute abfällig und schüttelte seinen Kopf.
Ich erkannte die Frau erst dann, als sie ihren Mund öffnete.
„Ich hoffe, ihr kennt die Konsequenzen." Die Stimme meiner Mutter klang unendlich enttäuscht, als hätten wir sie gerade bloßgestellt, als wären wir die Wurzel all ihrer Probleme.
In einem plötzlichen Geistesblitz schielte ich zu Max hinüber. Glücklicherweise hatte er das Buch verschwinden lassen. Seine Hände waren leer, sofern das im Zwielicht des Flurlichts zu erkennen war.
Ein wenig erleichtert, ich meinte, die Strafe konnte nicht allzu schlimm werden, durchschritt ich die Glastür und ging auf die drei Erwachsenen zu.
Der dritte Mann, etwas kleiner als ich und mit blonden Haaren sowie groben Gesichtszügen, musterte uns nun äußerst kritisch.
„Euch muss endlich Disziplin beigebracht werden." Seine Stimme klang scharf und weitaus stärker abgehackt als die der anderen Deutschen, die ich heute kennengelernt hatte.
Meine Mutter schlug plötzlich ihre Hand vor den Mund.
„Schaut auf ihre Handgelenke!", rief sie entrüstet.
War sie überhaupt irgendwie loyal zu ihren Kindern?
Die beiden anderen stellten nun auch mit einem ähnlichen Ausdruck von Schock fest, dass weder Max noch ich unsere Digits trugen.
„Ich hatte noch vor, für ein wenig Hausarbeit zu plädieren", erklärte der größere Mann. Jetzt steckten wir echt tief in der Bredouille. „Aber Missachtung des Digitgebots... Für jedes andere Mitglied unserer Gesellschaft wären das zwei Wochen Lager, das ist euch hoffentlich bewusst?"
Max starrte zu Boden, seine Schultern waren extrem angespannt.
„Ich bin für Kammerarrest", erklärte meine Mutter und ich zweifelte nun endgültig daran, dass sie in dieser Welt zu einem Menschen erzogen worden war.
„Für die gesamte Siegeswoche?", erwiderte der Blonde.
Max wirkte alarmiert, schien sich aber nichts anmerken zu lassen. Langsam verstand ich seinen Hass ein wenig.
„Das ist das Mindeste", urteilte der Größere.
Der kleine blonde Mann behielt das Schlusswort. „Sofern Henning zustimmt, seid ihr verbannt in den Kammerarrest für den Rest der Siegeswoche und ausgeschlossen von jeglichen Festaktionen." Er grinste sadistisch. „Man wird euch noch beibringen, was es heißt, zu dieser Familie zu gehören!"
Mir schauderte es bei diesen Worten. Die wollten uns einsperren, weil wir eine beschissene Uhr nicht getragen hatten? Das konnte nicht richtig sein.
Max schaute nun herausfordernd zu den Erwachsenen hinunter, denn sie alle drei waren deutlich kleiner als er.
„Euer Arrest beginnt noch heute Abend", legte der „Größere" fest. Ich schloss kurz meine Augen. Das konnte nicht wahr sein. Gerade, wo wir so nah an des Rätsels Lösung gelangt waren.
Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was in Max' Kopf vorging. Alle seine Pläne waren von meiner Dummheit, unserer Unvorsichtigkeit zerstört worden.
Die drei Erwachsenen bedeuteten uns, den Flur hinunter zu gehen, und weil Max und ich sowieso schon verloren hatten, fügten wir uns wortlos.
Wir gelangten zu einer Kammer, die mir aus der Wirklichkeit bekannt war, ebenfalls aus der Vergangenheit. In gewisser Weise war es lustig, oder auch makaber, wie Räume über Jahrzehnte und Regimewechsel hinweg ihr Image behielten, ihren Zweck nur marginal veränderten.
Die „Kammer" war natürlich der Jagdsaal, das schreckliche Lager des Sargs zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs.
Missmutig ließ ich mich hineinschieben, Max ebenso. Zumindest waren wir nicht allein.
Wortlos starrten wir die hölzerne Tür an, die sich vor unseren Augen schloss und mit einem Klicken nicht mehr zu öffnen war. Ich seufzte und schaute mir unser Gefängnis an.
Kahle, hölzerne Wandvertäfelungen und ein Teppich. Eine einzige funzlige Lampe. Na, das war ja vielversprechend.
Licht drang kaum welches zu uns, schließlich war es ja auch schon 23:44:20:17 Uhr.
Entmutigt schaute ich zu Max herüber. Dessen Augen funkelten nun mit einer Intensität, die unbeschreiblich war.
„Das ist alles deine Schuld!", warf er mir vor. „Wäre ich dir nie in die Bibliothek gefolgt... Ich wusste doch, dass etwas nicht mit dir stimmte!"
Betreten schwieg ich. Ich wusste ja, dass er Recht hatte und ich schätzte es sehr, dass er dichtgehalten hatte. Trotzdem würde es mir nicht leicht fallen, seine Wut zu ertragen. Deren Ausmaß musste gigantisch sein, wenn man bedachte, dass ich gerade seine terroristischen Pläne zerstört hatte.
„Anna, gestern noch haben wir darüber geredet, dass wir vorsichtig sein müssen. Und heute hast du so viel angestellt... Es ist fast so, als wolltest du entdeckt werden!" Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und viel zu nah.
„Was unterstellst du mir?", warf ich vorsichtig zurück.
„Du... du... Ach keine Ahnung! Du hast alles zerstört. Ich habe es vermasselt. Und wenn ich nicht wegen Hochverrats entdeckt und verurteilt werde, dann muss ich für immer in diesem Höllenhaus leben und zusehen, wie Mama irgendwelche Deutschen vögelt!"
Schockiert ob seiner Wortwahl sah ich ihn an.
„Max, ich weiß, dass alles gut werden wird." Das war eine klare Lüge, aber irgendwie musste ich ihn ja beruhigen. „Du wirst frei sein, wir alle werden frei sein. Keine Theresa, kein Henning, keine Deutschen, die unser Zuhause invadieren."
Ungläubige, glänzende Augen blickten zurück, sie waren schwarz in dem schummrigen Licht.
„Wie kannst du dir da so sicher sein?"
„Vertrau mir", flüsterte ich und schloss ihn in meine Arme, während er immer noch wie erstarrt dastand. Einen Moment lang fühlte es sich an, als würde ich ein Brett umarmen, dann ließ er es zu und ich spürte, wie er sein Gesicht in meine Schulter vergrub. Seine Last verteilte sich auch auf meine Schultern, so wie vorhin schon bei meinem Großvater. Auch das Gefühl der Geborgenheit umgab mich, es war eine Verbundenheit, die ich aus meinem oberflächlichen Leben der Wirklichkeit nicht kannte.
Ganz unpassend dachte ich an jenen Tag zurück, als ich ihn zurückgewiesen hatte. Als ich so sehr in meinen Gedanken vertieft gewesen war, dass es mich selbst überrascht hatte. Ein klein wenig Wehmut machte sich in mir breit.
Schnell löste ich mich von ihm, die Verwirrung schien überhand nehmen zu wollen.
„Warst du schon einmal im Kammerarrest?", fragte ich möglichst unverfänglich.
Entgeistert schaute er mich an.
„Tut mir leid. Ich bin ein wenig müde", gab ich zu. Wie diese Leute mit ihren Kindern umgingen. Wegsperren. Beleidigen. Zum Militär schicken. Da sollte man sich nicht wundern, dass aus ihnen waschechte Terroristen wurden.
Resigniert setzte ich mich auf den harten Teppich und fragte mich, wie ich hier auch nur ein Auge zumachen sollte.
„Was ist jetzt eigentlich mit dem Buch?", erkundigte sich Max.
Wie elektrisiert sprang ich wieder auf. Aber natürlich, das Buch! Ich hatte es beinahe vergessen.
„Hast du es denn noch an dir?" Innerlich betete ich, dass er jetzt ja sagen würde.
„Ja. Sei froh, dass ich so umsichtig war! Ich hoffe, dass war es wert", sagte er und griff unter seinen Pullover. Mir blieb unklar, wie zur Hölle er es geschafft hatte, das eckige Ding vor den wachen Augen der Erwachsenen zu verstecken.
„Glaub mir, das ist es."
Gierig nahm ich es in die Hand und schlug es auf. Dank des schlechten Lichts war es leider kaum zu entziffern, aber ich tat mein Bestes.
In maschineller Schrift war zu lesen:
„Annabelle Hawthorne.
Du hast mir gesagt, dass du das hier brauchen wirst. Die Erklärung wird kommen, und zwar schneller, als du denkst. Bis dahin brauchst du nur eins zu wissen: Deine Kräfte sind nicht an das Radio gebunden. Es dient lediglich als Speicher deiner Energie. Aber du, als einzige deines Schlags, hast genug Kraft. Du kannst es schaffen, allein zurückzureisen. Das Radio hilft nur den Zeitlosen, dich im Blick zu behalten. Du bist so viel stärker als sie, sie fürchten dich. Vertraue ihnen nicht, sondern nur dir selbst. Höre ihnen zu, aber bleibe kritisch.
Wie du es schaffen kannst, ist ganz einfach. Du musst deiner Welt entgleiten, deine Gedanken ver..."
Ein unausgesprochen lautes Geräusch hämmerte meine Gedanken nieder. Es tat in meinen Ohren weh und ich hielt mir die Hände schützend davor. Doch das „Klong", wie das Klingen einer riesigen Glocke, wurde nur noch lauter. Mein Trommelfell schien überbelastet und mein Herz schien meinen Brustkorb sprengen zu wollen, so schnell schlug es.
Eine Übelkeit überkam mich, die so stark war, dass ich mich auf dem Teppich würgend zusammenkrümmte.
Nur eine warme Hand legte sich auf meinen Arm und ich ließ los, wie es in den paar Zeilen gestanden hatte, ich ließ los und mir wurde schwarz vor Augen.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now