Kapitel 74

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Es war einer dieser schrecklichen Rückkopplungstöne des unheimlichen Holzradios, klang entfernt zu mir.

Ich hielt mir meine schmerzenden Ohren.

Um mich herum ging es den Anwesenden genauso, wenn nicht sogar schlechter. Sie alle krümmten sich vor Schmerzen, ganz besonders, als weitere Töne einsetzten. Die Klänge verbanden sich zu einem Choral des Schreckens und der völligen Atonalität.

Mich traf der Lärm nicht so hart, ich war beinahe abgestumpft. Im Gegensatz zu den letzten Malen war die Katzenmusik zwar immer noch unangenehm, aber sie bereitete mir keinen physischen Schmerz mehr. Ich spürte sie nicht mehr als Druck auf meinem Schädel, sondern nur noch als Hintergrundlärm auf meinem Trommelfell.

Ich richtete meinen krümmen Rücken wieder auf, entfernte langsam meine Handflächen von den Ohrmuscheln. Den anderen ging es weniger gut, sie rollten sich teilweise auf dem Boden zusammen. Es war, als würde man einen Horrorfilm gucken. Ich war ein unbeteiligter Beobachter, der die Qualen der Hauptcharaktere nur mitansehen und nicht erleben musste.

Der einzige Effekt der Kakophonie war die totale Vernebelung meiner Gedanken. Ich fragte mich nicht, was los war, ich stellte keine Verknüpfungen mit ähnlichen Geräuschen her. Stattdessen existierte ich nur als Lärmempfänger, Beobachter.

Der Spuk hörte nach 2:59 Minuten auf.

Mit ihm verklang der Lärm, die Personen, deren Körper sich unmenschlich verzerrt hatten, standen geisterartig auf und schauten mich mit leeren Blicken an. Es lief mir arktisch kalt den Rücken hinunter, als ich Charles erblickte. Beinahe wie ein Dämon aus einer schlechten Fantasyserie waren seine Augen komplett schwarz, die Iris war kaum von dem unmerklich heller schimmernden Augapfel zu unterscheiden.

„Schön, dass du hierhergefunden hast, Annabelle", sagte Charles und auch wieder nicht Charles, denn er kannte meinen Namen, und das tat Charles schließlich nicht; es erklärte plötzlich die bekannten Geräusche, die gespenstischen Verhaltensmuster der Masse –

„Louis oder Jerome?", fragte ich trocken und schlug meine Augen nieder. Natürlich. Die Zeitlosen. Beinahe hatte ich sie verdrängt. Diese Männer verfolgten mich. Es war ein Schock, sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen, in einem echten Körper in der echten Welt.
Mein Herz fing vor Angst an zu rasen. Die Zeitlosen waren vollkommen unberechenbar und würden nicht davor zurückschrecken, alles zu tun, was nötig war, um ihre Ziele zu erreichen.

Charles lachte. „Jerome. Ich bin stolz auf dich, dass du das verstanden hast. Und ich sehe, dass du deine Aufgabe erfüllen möchtest. Wir sind hier, um deinen Erfolg zu gewährleisten."

Ich schwieg und runzelte meine Stirn.  Zum Glück hörte ich ihm richtig zu und dachte einen Moment nach. Da stimmte etwas nicht, oder? Das ergab nun nämlich gar keinen Sinn mehr.

„Ihr seid hier, wenige Meter von Maggie entfernt. Ihr helft mir, ihr rettet mich aus einer brenzligen Situation. Und warum geht ihr nicht weiter? Warum betretet ihr nicht ihr Zimmer und... Und tötet sie selbst?"

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dem wahren Kern des Ganzen näherzukommen.

Etwas verdattert schauten Charles dunkle Augen mich an.

„Ihr könnt es nicht", sagte ich vorsichtig. „Ihr könnt sie nicht töten."

Der Ausdruck auf seinem todernsten Gesicht bewies, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

„Deshalb braucht ihr mich. Ihr könnt Maggie nicht kontrollieren und ihr könnt sie genauso wenig auslöschen. Deswegen habt ihr mich erschaffen, für einen ausgeführten Schuss."

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now