Kapitel 61

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Wie ein alter Freund kam mir die 1940 vor, die in meinem Kopf schwirrte. Ich wachte im Jagdsaal auf, umgeben von getäfelten Wänden und dem schrecklichen Holzsarg. Die Dielen knarrten unter meinem Gewicht, als ich mich aufsetzte. Endlich war ich hier, zurück in der Vergangenheit. Das klang nach einem ziemlich guten Filmtitel, oder?

Meine Sicht blieb nur kurz verschwommen und meine Augen stellten bald auf meine – immer noch – weiße Haut klar. Ich wusste, solange ich in dem Körper dieser Puppe gefangen war, hatte sich noch nichts geändert. Die Nazis hatten Europa übernommen und ich war eine Hellhäutige, geboren in eine Zeit der Dunkelheit.

Wild entschlossen, daran etwas zu ändern, sprang ich auf. Mein Kreislauf war noch ein wenig unten, aber ich ignorierte die schwarzen Punkte in meinem Sichtfeld und ging schnellen Schrittes zur Tür, hinaus in die Freiheit, in die Welt, in der noch alles möglich war –

Eisige Stille lag auf dem Korridor. Ich schaute mich um. Eine Lampe flackerte. Es war gespenstisch leer. So, wie ich es aus der Gegenwart kannte. Meine innere Uhr zeigte klar und deutlich 1940 an, und trotzdem konnte ich kein Geräusch hören, weder Schritte noch Atmen oder auch nur einen Windhauch. In dem Raum herrschte absolute Leere, obwohl er noch immer mit den bekannten Möbeln gefüllt war, obwohl seine Wand rosa strahlte.

Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Wo waren sie alle?

Mittlerweile hätte ich längst das Schlagen einer Tür hören sollen, die Schritte eines Zimmermädchens.

Ein plötzliches Zischen ließ mein Herz schneller schlagen. Blitzschnell drehte ich mich nach rechts um, wo es hergekommen war. Dort erblickte ich ein junges, blondes Mädchen. Ich meinte, sie schon einmal gesehen zu haben, damals, auf dem Sommerball. Sie schaute mich mit ängstlichen Augen an und bedeutete mir, zu ihr zu kommen.

Verwirrt folgte ich der Aufforderung und begab mich zu der Ecke, wo sie stand.

„Ich war auch neugierig", flüsterte sie mir zu.

„Worauf?", fragte ich zurück und erntete einen entgeisterten Blick.

„Na, ob sie wirklich kommt!", erklärte sie, als wäre es selbstverständlich.

„Über wen sprichst du?", raunte ich zurück. Wieso flüsterten wir überhaupt?

Ihr Gesichtsausdruck wurde noch unverständlicher und ich nahm an, dass meiner ein Abbild davon war.

Ein Geräusch aus der Richtung, wo ich eben gestanden hatte, ließ sie ihren Mund wieder schließen, den sie für den Ansatz einer Erklärung geöffnet hatte.

Wir beide drängten an die Ecke, die uns von dem weiteren Flur trennte und schauten vorsichtig den Gang hinunter.

Zu meinem Erstaunen erblickte ich dort Arthur. Ein kleiner Stich in meinem Bauch schien mir sagen zu wollen, dass dieser dunkle Haarschopf wirklich ihm gehören musste. Neben ihm stand eine hagere Person mit grauem Haar, die ich als meinen Urgroßvater identifizierte. Ein dritter Mann kam hinter den beiden zum Vorschein, den ich noch nie gesehen hatte. Er war vollschlank, hatte ebenfalls graue Haare und trug als Einziger einen Hut.

„Sie ist schon eine halbe Stunde überfällig", erklärte Arthur mit seiner Stimme, die nun kein bisschen mehr warm klang wie bei unserer ersten Begegnung. Er hörte sich beinahe ein wenig polternd an, mich verwunderte der beinahe ängstliche Ton.

Leider konnte ich keinen allzu guten Blick auf ihn erhaschen, aber ich meinte, dass seine Wangen leicht gerötet waren.

Was war passiert, in den wenigen Tagen, die ich nicht hier gewesen war? Auf wen warteten die drei Männer?

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now