Kapitel 68

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„Warum sind hier Flugzeuge?", fragte James. Er war sichtlich aufgebracht, Lizzie ließ nur ein leises Wimmern von sich hören. Beschützend hielt er sie mit beiden Händen hinter sich.

„Weil ich ihnen den Tipp gegeben habe, dass ein gewisser Winston Churchill sich hier versteckt." Maggie stand nun seitlich zwischen Arthur, mir und dem James-Lizzie-Gespann. Ihr Gesicht hatte jegliche Freude verloren und sie sah eher aus wie jemand, der all das bereute. Einen Moment entdeckte ich die freundliche Haushälterin unter der Maskerade der Psychopathin.

„Dabei hast du Churchill doch umgebracht", warf ich ihr vor, aber sie ignorierte meinen Kommentar. Ich zweifelte kein Stück an ihrer Schuld, es lag einfach auf der Hand. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, trotz des herrlichen Sommerwetters.

„Schade um das Haus... Belle, du weißt ja, was sie daraus machen werden. Bitte sag mir nicht, wie schlimm es ist. Ich will es gar nicht wissen."

Überrascht betrachtete ich sie ganz genau. Sie wusste nicht, was ihr Handeln für Auswirkungen hatte.

Aber natürlich wusste sie das nicht! Schließlich kam sie aus der Zukunft des normalen 2015, der unveränderten Gegenwart.

„Ein Flachdach bekommt das Gebäude, eine graue Bibliothek mit grauen Einbänden und Glaswänden", erzählte ich ihr entgegen ihres Wunsches. Sie musste wissen, was geschehen würde. Sie musste die Konsequenzen kennen, wenn vielleicht noch ein Fünkchen Gewissen in ihr steckte.

Maggie schwieg, obwohl ich ihr direkt widersprochen hatte.

„Die Hawthornes werden unter die Aufsicht einer deutschen Familie gestellt. Großbritannien, ganz Europa - alles wird faschistisch. Max, mein unschuldiger Bruder - ja, dass er mein Bruder ist, habe ich mittlerweile auch ohne dich erfahren - wird zum Widerstandskämpfer und riskiert sein eigenes Leben, vermutlich umsonst. Meine Mutter bleibt auf Hawthorne Manor und wird zu einer eiskalten Schlampe. Und du - du tauchst nirgends auf. Vielleicht hast du dich aus Scham umgebracht", sagte ich gehässig. Ich wusste, dass jedes Einzelne meiner Worte meinen Tod bedeuten könnte, so wie die arme Frau auf der Terrasse konnte ich enden. Doch hier stand nicht nur mein Leben auf dem Spiel, sondern das Schicksal der gesamten Menschheit. Sollte Maggie jetzt nicht aufwachen, dann würde sie es nie tun.

„Weitergehen", verlangte sie. James war zunehmend unsicherer geworden, vor allem, weil die Flugzeuge beträchtlich nähergekommen waren. Durch das Blätterdach meinte ich, einen schwarzen Schatten zu sehen, der gut ein Flugzeug hätte gewesen sein können.

Niemand gab diesmal Widerworte. Zeit für Diskussionen war, wenn wir in Sicherheit waren. Deswegen folgten wir Maggie, weil wir selbst noch stärker in Gefahr waren, wenn wir blieben.

Maggies Ordnung stellten wir nicht wieder her, ich ließ es mir nicht nehmen, neben Arthur zu gehen. James wollte nicht von Lizzies Seite weichen und Maggie schien viel zu durcheinander, um es zu bemerken.

Wie ein Stück Paradies blitzte vor uns die glatte Oberfläche des Sees auf. Ein fernes Echo, eine Erinnerung an den Tag mit Max, tauchte in meinen Gedanken auf. Die Wasserfläche wurde von einem Steg durchschnitten, an dem mehrere Paddelboote lagen. Die Nähe des Wassers ließ mich ein unvergleichliches Heimatgefühl spüren und ich fühlte mich ein wenig selbstbewusster. Die salzigen Tränen auf meinen Wangen waren getrocknet und verklebten meine glatten schwarzen Strähnen, die im Sonnenschein glühten.

So friedlich, wie die Lichtung war, so unwirklich waren die lauten Flugzeuge, die im Tiefflug über die Baumkronen hinwegfegten.

Mit einem Mal überkam mich echte, tatsächliche Todesangst. Schlimm genug war es, dass wir wussten, was mit den zurückgelassenen Bewohnern geschehen würde - Maggie hatte es ziemlich deutlich gemacht, dass sie das Ziel des Angriffs waren. Aber erst jetzt realisierte ich, dass sie hinter mir mit einer geladenen Waffe stand und keinen Grund hatte, mich am Leben zu lassen. Im Gegenteil, ich war Teil der Gruppe, die sie so hasste. Ich war indirekt für ihr Leid verantwortlich. Und sie konnte keine Verwendung für mich haben, außer der, mir wehzutun.

„Lasst uns noch alle offenen Fragen klären, bevor die Bomben einschlagen", schrie Maggie gegen den Motorenlärm an.

Sie drängte uns auf den hölzernen Steg, James und Lizzie zwang sie, sich auf ein Paddelboot an der Stegspitze zu setzen. Arthur und mich behielt sie auf den Holzdielen und ich hatte eine böse Vorahnung, was das bedeuten würde. Panisch rückten wir eng zusammen, sodass wir uns beinahe berührten.

Die Natur roch nach frischen Blättern, ein täuschend schöner Hintergrund für eine groteske Szene.

„Warum tust du das? Warum löschst du die ganze Menschheit aus, und nicht einfach nur die Zeitlosen?", fragte ich mit lauter Stimme.

„Weil ich keine andere Wahl habe, Annabelle. Du bist nicht die Erste, und sie werden nicht ruhen, Kinder wie dich zu zeugen. In der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Sie bauen eine willige Armee auf, die alle Zeitreisenden auslöschen sollen - dann hoffen sie, wieder zurückkehren zu können, permanent in ihre eigenen Körper. Aber das wird nicht geschehen. Ich werde verhindern, dass diese Männer je an mich und meine Mutter herankommen. Ich werde glücklich sein, auch ohne die Demokratie." Sie sah nun sehr verzweifelt aus, ihre Augen müde von den Traumata, die sie erlebt haben musste. Es war glasklar, dass sie nicht mehr rational dachte und sie tat mir beinahe leid. Damals war sie ein kleines, unschuldiges Mädchen gewesen.

„Weißt du, was mir diese Demokratie gebracht hat? Jahrelang habe ich in London in den verschiedensten Pflegefamilien gelebt, weit über meinen 18. Geburtstag hinaus. Niemand wollte mir mein Alter glauben. Irgendwann bin ich ausgebrochen. Genau deswegen lasse ich euch am Leben", sagte sie und zeigte auf einen sehr verwirrten James und Lizzie. „Ihr seid es, die mir Obdach gegeben haben, dafür werde ich euch unendlich dankbar sein."

Sie drehte sich zu Arthur um und ein unbeschreiblicher Schmerz lag in ihren Augen.

„Du hast mich verlassen, du hast zugelassen, dass sie all das mit mir anstellen... Du bist Abschaum."

In Arthurs Augen sah ich einen Schmerz, fast tiefer sitzend als Maggies.

„Es-es tut mir leid", beteuerte er. „Ich werde dich suchen, Maggie. Und Dorothy. Wir werden eine glückliche Familie sein." Diese Worte trafen mich hart in der Magengrube, aber ich konnte ihn verstehen. Natürlich war ihm seine Familie wichtiger als ich, wo er mich doch kaum kannte.

„Du Lügner! Du hast uns verlassen! Jahrelang habe ich auf dich gehofft, gewartet, für dich gebetet. Und nie bist du gekommen!", schrie sie.

Ihre Augen waren nun eindeutig wahnsinnig. Mit zitternder Hand erhob sie die Pistole. Sie würde schießen, das wusste ich.

Aus Angst ergriff ich endlich Arthurs Hand und stellte mich seitlich schützend vor ihn.

„Lass ihn am Leben!", flehte ich. Meine Stimme klang kaum noch menschlich. Meine Nackenhaare hatten sich aufgestellt. Ich bereute in diesem Moment meinen Hochmut, wie ich immer noch gedacht hatte, sie besiegen zu können - ohne wirklich einen Plan zu fassen. Sie hatte mich mit ihrem Gerede abgelenkt und ihre Geschichten sollten nun nicht ihr, sondern mir zum Verhängnis werden.

„Bitte, tun Sie es nicht!", rief nun auch James. Wir wechselten einen kurzen, angsterfüllten Blick.

Der Einzige, der schwieg, war Arthur. Er hatte seine Schultern und Hände erhoben. Seine Mundwinkel waren verzerrt, die Nasenlöcher erneut aufgebläht. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Furche und an seinen Schläfen pochten die Blutgefäße. Arthurs Atem ging laut und keuchend. So viel Leben.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorDonde viven las historias. Descúbrelo ahora