Kapitel 4

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Elizabeth stieg sie schnellen Schrittes hinauf. Die Stufen waren so breit, dass neben ihr noch zehn andere Personen hätten gehen können.

Alles wirkte so, als wäre es hier früher laut und lebendig gewesen. Man sah regelrecht die Diener von einem Raum zum anderen huschen, Petrol in den ehemaligen Petrollampen nachfüllen, eine edle Dame in Rüschenkleid, eingehakt im Arm eines schnurrbärtigen Edelmanns im Anzug die Treppe hinaufsteigen, wie zu einem Bankett oder Ball, vielleicht auch nur zu einer Familienfeier; im Hintergrund hörte man frühes Jazzgedudel aus einem kratzigen Grammofon.

Doch das, was man sah, waren nur Staubpartikel, die im Schein der Lampen wild umher tanzten, leicht verbraucht aussehende Möbel und Tapeten, die dennoch gut gepflegt waren, ausgetretene Teppiche, die ihren Charme noch längst nicht verloren hatten.

Und auf all dem lag eine gedämpfte Stille von summenden Glühbirnen, waberte wie ein Spinnennetz um alle Windungen der Flure.

Ich stieg kurz hinter Elizabeth die Treppen hoch. Der samtene Teppich, der auf den Stufen lag, schmeichelte meinen nackten Füßen.

Mitten auf der Treppe stoppte ich abrupt.

Ein leises Geräusch durchbrach die Stille, ganz anders als Elizabeths tapsende Füße. Es hörte sich an wie eine quietschende Tür oder wie ein wütendes Tier, gedämpft durch eine dicke Wasserschicht – oder Staubschicht. Bei genauerem Hinhören klang es eher nach einem Jaulen. Langgezogen. Dann war das Geräusch plötzlich wieder weg, so schnell, wie es gekommen war. Gruselig.

Elizabeth drehte sich zu mir um und blickte in mein verwirrtes Gesicht.

„Ist etwas?", fragte sie neugierig.

„Nein, nichts... hier gibt es ja nicht zufällig...äh... Haustiere, oder?", stotterte ich.

„Nein, wie kommst du darauf?"

„Nur so", meinte ich und stieg weiter die Stufen hinauf. Das war merkwürdig gewesen. Aber nein, wahrscheinlich hatten die Hitze und die Müdigkeit mein Hirn vernebelt.

Auch in der ersten Etage schlängelte sich ein Flur durch die ganze Fläche. Dieser war aber in hellen Rosa-Beige-Tönen gehalten, nicht so wie der blaugräuliche Flur im Erdgeschoss.

Wir bogen so willkürlich ab, dass ich zu dem Schluss kam, mir die zahlreichen Abzweigungen niemals merken zu können. Der Flur wurde schmaler, dann wieder breiter, wir bogen zweimal ab, der Flur verjüngte sich wieder, wir bogen ab, der Flur öffnete sich. Etwas schläfrig folgte ich Elizabeth durch den überall zwar unterschiedlichen aber irgendwie auch gleichförmigen Gang mit seinen mysteriösen Türen. Es kam mir vor wie ein niemals endender, surrealer Traum. Zweimal ertappte ich mich dabei, fast gegen eine Wand zu laufen.

Als meine Beine schon schmerzten, blieb Elizabeth abrupt stehen. Ich rannte sie fast um.

Links von ihr war eine hohe Holztür, auf die sie deutete.

„Das ist dein Zimmer. Die kleine Tür darin führt dich zu deinem Bad. Solltest du noch einmal ins Erdgeschoss kommen wollen, folge zur Viertelstunde einfach den Schlägen der großen Standuhr, die an der Treppe steht. Ansonsten wünsche ich dir eine gute Nacht!"

Sie lächelte mich aufrichtig an und verschwand in die Richtung, aus der wir hergekommen waren.

Plötzlich wurde es totenstill, so still, wie es in der Stadt nie werden kann. Das leichte Summen der Lampen war zu vernehmen, aber sonst nur ganz leise Elizabeths verhallende Schritte.

Unheimlich. Was war wohl hinter der nächsten Ecke und versteckte sich im Staub?

Mein Herz pochte schneller und ich wand mich wie besessen zu der Zimmertür um, drehte den Knauf und trat in das Zimmer ein. Ich schloss blitzartig die Tür hinter mir und atmete tief durch.

Dann erst sah ich mich im Raum um.

Er hatte eine luxuriöse, aber immer noch gemütliche Größe. In der Dämmerung konnte ich nur das bläuliche Licht hinter dem altmodischen, oben runden Fenster erkennen. Es war das erste Fenster zur Außenwelt, das ich seit einer längeren Zeit gesehen hatte, auf dem Flur gab es kaum welche.

Ich tastete mit meiner Hand die Wand ab und suchte nach einem Lichtschalter.

Klick. Ein heimeliges Licht im zentralen Kronleuchter ging an.

Direkt gegenüber des Fensters stand ein großes Himmelbett; der Vorhang mit altmodischen einzelnen Rosen bemustert, die man heute als Vintage bezeichnen würde.

Dieses Rosenzeichen fand sich auf dem beigen Holzschrank hinter dem Bett und auf den altrosafarbenen Vorhängen wieder.

Die Luft war staubig, also öffnete ich die Fensterläden des breiten silbernen Fensters. Dabei stolperte ich fast über meine Reisetasche.

Kühle Nachtluft wehte mir entgegen und ich hörte ein melodisches Vogelkonzert.

Keine Straßen, keine Züge, keine Feierabendkneipenbesucher, keine gurrenden Tauben, keine Straßenlaternen. Wie ich es vermisst hatte.

Ich genoss die natürliche Stille und die Dunkelheit, die hinter den schwarzen Umrissen von Bäumen aus dem Blau aufwallte, bis ich das hohe Summen einer Mücke direkt an meinem Ohr hörte.

Seufzend schloss ich das Fenster wieder.

Meine Tasche würde ich morgen auspacken, für heute wollte ich einfach nur den Schweiß abduschen und dann ins Bett.

Im Bad angekommen, erblickte ich eine freistehende Badewanne und eine gepflegte, dennoch alte Dusche. Hoffentlich war hier noch alles intakt, dachte ich, als ich die Klospülung an einer langen Kette sah.

Ich packte mein Badezimmerzeug aus und wusch mir mit kühlem Wasser das Gesicht.

Durchdringend hellblaue Augen starrten aus dem Spiegel zurück. Ein frecher, schwarzer Bob aus Locken umrandete ein normales Gesicht mit leicht hervorstehendem Kiefer. Mit meiner glatten, dunklen Haut bildeten meine Augen einen ziemlichen Kontrast. Mum sagte immer, ich sähe aus wie mein Dad, den ich nie kennengelernt habe. Ich hatte von ihm meine afrikanische Hautfarbe, die breite Nase und die flache Stirn, von meiner Mum kam meine zierliche Statur und meine blauen Augen, meiner Meinung nach das einzig Besondere an meinem Aussehen.

Wie sich herausstellte, gab es in der Dusche nur kaltes Wasser, das verdächtig nach Chlor und Kalk roch. Das war mir aber gar nicht so unrecht, sonst wäre ich in der Dusche vermutlich eingenickt.

Ich schaffte es irgendwie, in meinen Pyjama zu schlüpfen, das Fenster sperrangelweit zu öffnen, das Licht auszumachen und mich unter die dünne Decke in mein Himmelbett zu kuscheln, als mir auch schon die Augen zufielen. Die völlige Dunkelheit hatte ich nicht bemerkt, geschweige denn den Schein der Laterne, der sich auf den Wald zu bewegte.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorOnde as histórias ganham vida. Descobre agora