Kapitel 15

1K 114 16
                                    

Auf den Fluren begegneten wir immer wieder Dienern und Zimmermädchen, die perfekt ins Ambiente passten. Das Haus wirkte wie ein riesiges Hotel.

Vielleicht war es das ja auch einmal gewesen, schoss es mir durch den Kopf. Ansonsten machten die langen Flure und die zahlreichen Zimmer keinen Sinn.

Wir stoppten vor dem großen Saal. James klopfte vorsichtig, ein Diener in Frack öffnete uns die Tür.

„Was gibt es, James?", fragte die eiserne Stimme des grauen Haarschopfes, den ich sehen konnte. Jetzt war ich geliefert. Ein für alle Mal.

Ich blickte erhobenen Hauptes in den so bekannten und gleichzeitig merkwürdig unbekannten Raum, in dem meine Lüge auffliegen würde.

Gegenüber von diesem grauhaarigen Mann, der Lizzies Vater sein musste, entdeckte ich ein mir familiäres Gesicht mit dunklen Augen und verstört-ernstem Blick. Er schaute mich direkt an, die makellosen Gesichtszüge angestrengt. Es war der Mann von dem Foto, dessen Augen mir Gänsehaut bereitet hatten. Jetzt war zu dem jungen Mann ein Name gekommen. Arthur Spencer.

Genau in diesem Moment, als sich unsere Blicke ineinander verhakten, spürte ich ein Ziehen in meiner Magengegend und alles wurde schwarz.

Für einen kurzen Augenblick befand ich mich erneut in der Schwerelosigkeit. Mit einem dumpfen Aufschlag kam ich wieder in die Realität zurück.

„Belle?", hörte ich eine Stimme besorgt rufen. Die Stimme klang gedämpft zu mir, wie durch eine Zimmertür und mein Name echote in meinem Kopf. Etwas rüttelte an meiner Schulter. Ich schlug meine Augen auf, alles war verschwommen und drehte sich.

„Belle! Gott sei Dank!" Ich erkannte langsam, dass ich in Max' von Sonnenbrand gerrötetes Gesicht blickte. Ich war wieder zurück in der Kammer mit dem Radio – und dem Sarg.

„Was zur...", murmelte ich. Eben war ich noch dort gewesen, hätte Lizzies Vater kennengelernt und meine Lügengeschichte wäre aufgeflogen.

Ganz vage nahm alles wieder seine Formen und Farben an. Ich versuchte mich aufzusetzen und wurde sofort von Max gestützt.

„Ganz langsam..." Er sprach mit mir wie mit einem kleinen Kind.

„Ich kann auf mich selbst aufpassen", fauchte ich, als ich meinen Gleichgewichtssinn wieder spüren konnte.

„So sah das aber eben nicht aus", äußerte sich Max sichtlich besorgt. „Ich bin wegen deiner Schreie gekommen und plötzlich liegst du da, komplett Dornröschen und so. Weißt du, was du mir schon wieder für einen Schrecken eingejagt hast?"

Ich schaute zu dem Gerät, das mich sieben Jahrzehnte in die Vergangenheit geschleudert hatte. Es stand unschuldig auf seinem Tischchen, der Schalter auf „Off".

„Hast du das Radio ausgeschaltet?", fiel mir plötzlich ein, zu fragen.

„Natürlich. Das rauscht ja nur. Wieso hast du das Teil überhaupt versucht zum Laufen zu bringen? Es hat nicht einmal eine Antenne."

„Aber da war dieser Radiosender und..."

„Was, und?", äffte er mich nach. „Hör mir mal zu, Belle, du hast dir wahrscheinlich schlimm den Kopf gestoßen, auch wenn du dich nicht daran erinnern kannst. Komm mit, ich bringe dich in dein Zimmer." Wieso war eine Kopfverletzung für uns beide die einzige logische Antwort auf diese Situation?

Innerlich war ich gespalten. Sollte ich ihm davon erzählen oder nicht? Er reichte mir seine Hand und sah mich erwartungsvoll an. Ich lehnte mich zurück und fing an zu sprechen. Er würde mir eher glauben als James, oder irgendjemand aus der Vergangenheit. Zeitreisen waren zwar immer noch absurd, aber es gab mittlerweile so viele Erzählungen darüber, dass es nicht so unwahrscheinlich war, wie vor siebzig Jahren. Hoffte ich jedenfalls. Und dass Max im Angesicht dieser unglaublichen Geschichte etwas freundlicher zu mir sein könnte.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now