Kapitel 54

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„Bist du dir... sicher?"
„Natürlich! Du warst verzweifelt, das musst du doch noch wissen."
„Nein", murmelte ich, „das kann ich noch nicht wissen."
James hatte mich gar nicht gehört. „Worüber wolltest du noch reden, Mary?"
„Darüber, was geschehen ist", erklärte ich enttäuscht. Ich korrigierte ihn nicht einmal. „In 1940. Niemand will mir irgendetwas sagen."
In plötzlicher Klarheit griff James meinen Arm und packte kräftig zu. Ich meinte, einen Moment lang sein jugendliches Selbst durch sein schlaffes Gefängnis sprechen zu sehen.
„Als ich noch konnte, habe ich alles niedergeschrieben, was du wissen musst. Such in der Bibliothek, unter deinem richtigen Namen."
Ich blinzelte, um mich seiner Worte zu vergewissern. Die Augen wieder öffnend war sein Blick wieder trüb.
„Sag, Mary, wie geht es deiner kleinen Anna?" Er strich mir sanft über den Oberarm.
„Großartig, Papa", antwortete ich mit einem Lächeln. James war noch ein letztes Mal zu mir durchgedrungen. Mehr konnte ich nicht erwarten.
„Darf ich dich drücken, mein Kind?", fragte er mit einem liebenden Gesichtsausdruck.
Ich fühlte mich verbunden mit diesem Mann, der so viel erlitten haben musste. Als männliches Familienoberhaupt schien er eine besondere Rolle bei der Schuld für das „Vergehen" der Familie Hawthorne zu spielen. Ich wollte ihm nur allzu gern die Last abnehmen, immer nur ein Mensch zweiter Klasse gewesen zu sein, weil seine Herkunft, seine Jugend dem Regime nicht passte.
Also ließ ich mich in die Umarmung ziehen. Er roch nach strengem Waschmittel und Staub. Seine Arme waren kräftig und ich fühlte mich geborgen, obwohl ich diesen Mann kaum kannte. Es war ein erleichterndes Gefühl, endlich gelöst zu sein von dem Druck, der auf mir lag, verbunden mit jemandem, der mich verstand. Er erinnerte sich zwar nicht mehr daran, doch es machte mir nichts aus. Die Hauptsache war, dass er mir geholfen hatte. Trotz allem hatte er sich so sehr gegen die Zeit und sich selbst aufgelehnt, bis er es geschafft hatte.
„Ich weiß, dass du alles schaffen kannst, Belle."
„Das werde ich, Gramps. Vielen Dank, für alles", murmelte ich in seinen grauen Pullover.
Wir hörten Geräusche auf dem Flur, eine aufgebrachte Stimme.
„James! James, wo bist du?"
Es war Elizabeth.
„Liz?", antwortete der alte Mann mit einer Sehnsucht in seiner Stimme, die unbeschreiblich war.
Die Tür ging auf, die Tür, die direkt auf den Flur führte.
„James! Da bist du ja... Als du einfach weg warst..." Meine Großmutter wirkte ernsthaft aufgebracht. Bei meinem Anblick verstummte sie.
„Anna! Was machst du denn hier?"
„Ich...", setzte ich an.
Opa hat dich hoffentlich nicht belästigt? Er war heute Morgen schon so verwirrt..." Ihr Blick wechselte von leicht wütend zu sehr besorgt. „Komm mit mir, Liebling!"
Liebevoll half sie ihrem Ehemann auf und stützte seinen linken Arm, der Arm, mit dem er sich nicht auf einen Stock aufstützte.
„War mir eine Freude, Mary!", rief James, mir den Rücken zu gewandt und gab Geräusche von sich, die an ein Lachen erinnerten. Ich fragte mich, ob seine Verwirrtheit gespielt gewesen war, tat es dann doch als lächerlich ab. Mit einem Lächeln beobachtete ich, wie Grandma auf ihn einredete und mit einem letzten entschuldigenden Blick zu mir aus der Tür schob.
Ich blieb eine Weile sitzen, den Blick auf den Innenhof gerichtet, und dachte darüber nach, was James mir erzählt hatte.
Arthur war tot. Es war zu erwarten gewesen, sagte ich mir selbst. Ich war ja nicht komplett illusorisch. Aber dass er schon seit fünfundsiebzig Jahren tot sein sollte... Das wäre ja 1940 gewesen. Ich hätte es gesehen, hatte James erzählt.
Ich wollte nicht sehen, wie jemand starb. Schon gar nicht wie Arthur starb.
Es war schockierend zu hören, selbst wenn es unvermeidlich war. Warum musste dieser Mist mir passieren?
Der schreckliche Gedanke überkam mich, dass ich eigentlich gar nicht zurückreisen wollte. Ich hatte nicht die mentale Kraft, mich mit all dem zu beschäftigen. Wie sollte ein einziger Mensch es schaffen, das Schicksal der ganzen Welt zu verändern? Diese ganzen Heldengeschichten – der Herr der Ringe – sie waren alle ausgedacht. Niemand war perfekt, keine wirkliche Person konnte tatsächlich die Welt retten.
Aber du bist auch keine normale Person, widersprach ich mir. Ich hatte meine Fähigkeiten nicht umsonst bekommen. Nur ich allein war von den Zeitlosen erwählt. Ich hatte entdeckt, dass ich in die Vergangenheit reisen konnte. Mir war die Aufgabe übertragen worden, weil ich allein die Möglichkeiten hatte, sie zu erfüllen. Und jetzt musste ich das verdammt nochmal akzeptieren. Es gefiel mir zwar nicht, aber so war das nun einmal – man konnte sich sein Schicksal nicht aussuchen.
Selbst wenn es bedeutete, dass ich den Tod einer Person, die ich mochte, bezeugen musste. Ich konnte hiermit nicht egoistisch sein. Deswegen nahm ich mir vor, jeden Einzelnen dieser schrecklichen Gedanken zu verbannen. Auch wenn die Vorstellung, mich an die neuen Gegebenheiten – vielleicht sogar Otto – anzupassen, so gemütlich klang. Ich verabscheute mich für den bloßen Gedanken, meinen Auftrag abzulehnen. Es wurde von mir erwartet. Mein eigenes Wohlbefinden zählte nicht mehr. Das machte mich zwar ein wenig wütend, aber was sollte ich schon tun?
Genug gejammert. Jetzt mussten Taten folgen.
James hatte gesagt, ich sollte in der Bibliothek suchen. Kein Problem, dachte ich, der Weg war nicht weit.
Demotiviert raffte ich mich auf und trat auf den Flur.
„Anna! Da bist du ja! Ich habe dich schon überall gesucht."
Na super. Theresa alias Nervensäge.
„Hör zu, Theresa, ich habe gerade echt..."
„Lass uns spazieren gehen", schlug sie mit leuchtenden Augen vor.
„Wohin?", seufzte ich. So schnell würde ich sie nicht wieder loswerden, vor allem, weil sie mich erst vor einer halben Stunde allein gelassen hatte.
„Ach, nur im Haus. Du weißt doch, dass mein Opa Henning nicht mag, wenn wir das Haus verlassen." Sie wirkte ein wenig betrübt.
Ich fragte mich, wie hier alle verwandt waren. Wenn der ältere deutsche Herr ihr Opa war, und sie meine Cousine sein wollte...
Mum müsste auf jeden Fall noch weitere Geschwister haben. Welch eine merkwürdige Vorstellung. Mary Richardson war in der Wirklichkeit genau wie ich ein verwöhntes Einzelkind gewesen. Niemals hätte sie zugelassen, dass jemand ihren Platz eingenommen hätte, und andererseits hatte sie nie die weise geschwisterliche Stimme gehabt, die sie davon abhielt, ihre Eltern zu verteufeln. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine weitere Person zum lieben, ein Geschwisterteil, meine Mutter wärmer gemacht hätte. Sie hätte sich längst nicht so verlassen gefühlt und wäre niemals von zuhause weggegangen, neidisch auf eine einfache Haushälterin.
Genau das schien nun der Fall zu sein. Sie lebte glücklich zuhause, mit zwei Kindern.
Trotzdem fiel mir auf, dass sie kaum mit ihren Eltern noch mit ihren Kindern auch nur ein Wort gewechselt hatte. Merkwürdig.
Theresa war also Tochter von Mums Bruder oder Schwester und dem Kind von Henning.
Wie lange waren die Deutschen dann bitteschön schon auf Hawthorne Manor?
„Hör zu, Theresa..." Ich blickte in die großen, grün schimmernden Augen. „Können wir das nicht verschieben?"
„Aber mir ist so langweilig! Komm, Anna, du bist doch immer diejenige, die etwas unternehmen will!"
„Ich... Ich hatte eigentlich vor, ein wenig in der Bibliothek zu lesen", erklärte ich mein Verhalten.
„Das kannst du doch machen, wenn wir wieder Unterricht haben! Wieso liest du in der Siegeswoche auch nur freiwillig etwas?"
Der was?
„Ähm... nur etwas, was Henning vorhin erzählt hat. Ich wollte... etwas nachlesen", log ich. War Theresa zu vertrauen? Sie wirkte ein wenig naiv auf mich. Und ich konnte jetzt nichts riskieren.
„Ich weiß, es nervt dich, dass die Männer sich immer im Kaminzimmer einschließen. Aber du solltest es gut sein lassen." Sie warf mir einen scharfen, vielsagenden Blick zu und wirkte mit einem Mal ganz anders.
„Nein, nein, das ist es nicht", versuchte ich, sie zu beruhigen. „Ich möchte einfach... ein wenig lernen."
„Aber wozu?" Sie lachte. „Selbst mit der Reform, du weißt doch, dass wir nicht dafür gemacht sind, Entscheidungen zu treffen. Warum lehnst du dich nicht zurück, lässt Otto für dich arbeiten und machst dir dein Leben so gemütlich wie möglich?" Diese Worte des Antifeminismus ließen mich schlucken.
„Du hast ja Recht", brachte ich hervor, um sie abzuwimmeln.
„Anna, was ist denn los mit dir? Gestern noch hast du mir gesagt, dass du auf einen Antrag wartest. Wir haben über die drei Kinder geredet, Arthur, Margaret und Johanna."
Ich riss erstaunt die Augen auf.
„Mensch, jetzt tu doch nicht so! Du fandst die drei Namen so toll. Einen Geistesblitz hast du es genannt."
Ein Geistesblitz. Das schien mir unwahrscheinlich.
Arthur, meine mysteriöse Bekanntschaft aus einem anderen Leben. Margaret, Maggie, die rothaarige Haushälterin. Johanna, meine deutsche Austauschpartnerin.
Irgendwo tief drin in Annas Verstand musste ein kleiner Teil von Belle stecken. Ob sie es gewollt hatte oder nicht, ein Teil von ihr war ich. Und demzufolge war das mein Körper, nicht nur Ihrer.
„Meinetwegen", gab ich nach. Theresa schaute verwirrt. „Das mit dem Spaziergang", erläuterte ich. Natürlich würde ich das Mädchen nicht loswerden, bevor sie das wollte. Dann konnte ich wenigstens versuchen, sie zu verstehen, ihre Sichtweise auf die Dinge.
Ihre Augen fingen wieder an, zu leuchten.
„Wohin geht es denn?", fragte ich, als sie mich an meinem Arm in die Tiefe des Flures zog.
„Ach, nur zu Ottos Raum."
„Und was wollen wir da?"
„Das wirst du schon sehen. Jetzt komm endlich!"
Die ganze Sache kam mir noch schlechter vor. Was hatte Theresa vor?
Ich stolperte an ihrer Hand durch die Gänge, die mir immer bekannter vorkamen. Bis die Nervensäge vor einem Raum anhielt, der mir mehr als bekannt war.
„Ähm, Ottos Raum?", erkundigte ich mich vorsichtig. Wenn ich mich nicht irrte und die Abzweigungen richtig erkannt hatte, würde ich gleich die Rosensargkammer betreten. An ihrer Tür prangte kein Symbol mehr, keine hellrote Rose. Und der Sarg mochte wohl auch nicht mehr darinstehen, wenn der Raum wieder bewohnt wurde.
Theresa schaute unverständlich und ignorierte meinen überflüssigen Kommentar, indem sie einfach die Tür aufstieß und in den Raum hineinging.
Mittlerweile verband ich einige Erinnerungen mit dieser Kammer, von dem aufregenden Kribbeln der Zeitreisen bis hin zu Arthurs Anblick kurz vor dem Sommerball.
Keine meiner Erinnerungen glich jedoch dem Aussehen des neuen Raums. Er war nun hölzern vertäfelt und mit einfachen Möbeln bestückt. Nur der helle Marmor zeugte vom Ansehen des Bewohners. Er musste durch seine Nationalität Privilegien haben, von denen Theresa und ich vermutlich nur träumen konnten, wenn ich in Gedanken das Bild meines neuen Zimmers abrief.
Glücklicherweise blieb ein weiteres Zusammentreffen mit Annas Freund aus. Es lagen überall Kleidungsstücke herum und ich vermisste die penible Ordnung, die Arthur gehalten hatte.
„Und, ähm, was machen wir jetzt hier?" Ein bisschen befangen blieb ich Türrahmen stehen, die Arme hinter meinem Rücken. Die Museumswärterpose, wie meine Mutter mir früher immer erzählt hatte. Und es stimmte tatsächlich, jede Person, die in einem Museum arbeitete schaute nicht nur böse, sondern tigerte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch die Ausstellungsräume. Warum mir jetzt dieser Blödsinn einfiel, blieb mir ein Rätsel.
„Nach dem Ring suchen!" In ihrem Blick schwang noch etwas anderes mit, aber ich ignorierte es aus Mitgefühl. Theresa, das kleine, naive Mädchen, schien für ihren blonden Cousin zu schwärmen. Und nun suchten wir nach einem Ring als Anzeichen für einen möglichen Heiratsantrag an ihre andere, gerade einmal 17-jährige Cousine. Warum wollte sie das freiwillig tun?
„Wir... wir müssen das nicht tun, okay? Lass uns doch lieber... ich weiß nicht, Max' Zimmer auf den Kopf stellen!", versuchte ich möglichst unauffällig, sie abzulenken.
„Nein, du wolltest suchen, und ich will dir helfen", erwiderte sie bestimmt.
„Aber nur kurz", gab ich nach.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now