Kapitel 46

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Erschöpft fielen mir die Augen zu. Den ganzen Tag über hatte ich alle anderen Bewohner des Hauses geschickt vermieden. Ich hatte das Zimmer aufgesucht, aus dem ich heute Morgen die Stimmen gehört hatte – mit erschreckendem, aber vielleicht auch logischem Ergebnis. Es hatte sich um ein verlassenes Gästezimmer gehandelt. Auf dem Teppichboden waren Abdrücke gewesen, Absatzabdrücke die zu den schwarzen Lackschuhen passten. So war mir alles klar geworden.

Auf Hawthorne Manor hatte wirklich eine Person gehaust, von der alle außer mir gewusst haben mussten. Sie hatte mich verfolgt und mich dazu angestiftet, in die Vergangenheit zu reisen. Ich war nicht komplett verrückt. Zumindest das konnte ich nun mit Sicherheit sagen.

Nach dem unbezogenen Bett und den offen stehenden, leeren Schränken zu urteilen, lebte niemand mehr in dem Raum. Vermutlich, weil ich sie beinahe entdeckt hatte. Doch die verdächtige Kuhle in der Matratze, das etwas hochgeschobene Schiebefenster und die Spuren im Staub der Fensterbank waren verräterisch. Eine lebende, schlafende, atmende Person hatte sich hier vor nicht allzu langer Zeit aufgehalten – eine Frau, die sich mit Max und Maggie irgendwie gestritten hatte.

Das war das Einzige gewesen, was wiederum nicht zusammen gepasst hatte. Mir war es aber genug gewesen. Mein Kopf war langsam am Explodieren gewesen von den ganzen Fragen, die ich mir gestellt hatte. Also hatte ich mein Ladekabel aus meinen Sachen hervorgezogen, mein Handy in die Steckdose gesteckt (das hatte ein komisches Geräusch gemacht, und ich war mir beinahe sicher, einen kleinen Funken gesehen zu haben) und meine Notizapp geöffnet. Ein Eintrag war entstanden, der mir noch gut im Gedächtnis war.

Nach der Grobfassung hatte ich angefangen, alles noch einmal zu strukturieren.

Gegenwart:

1. Mysteriöse Verfolgerin, wer weiß von ihr, was möchte sie?

2. Was hat es mit dem Sarg auf sich?

3. Wieso ist meine Mutter auf HM und was hat sie mit Max zu tun?

4. Wieso ist Max so aufgebracht?

Vergangeneheit:

5. Was hatte sich wie und wieso verändert? Welche Konsequenzen gibt es?

6. Kann ich Arthur bei seinem merkwürdigen Verhalten vertrauen?

Ich hatte kurz innegehalten, denn eine andere Kuriosität war mir eingefallen.

7. Wer ist die Schmuckdiebin?

Selbst wenn mir das in dem Moment eher unwichtig vorgekommen war, es war immerhin auch eine unbeantwortete Frage gewesen.

Schließlich hatte ich die letzten Fragen in einer dritten Kategorie zusammengefasst.

Ich:

8. Warum kann ich Zeitreisen?

9. Wer sind die Anzugträger?

10. Welchen Einfluss hat das Zeitreisen auf mich?

Den restlichen Tag hatte ich mit Grübeln verbracht, und damit, mir die Liste vollständig einzuprägen. Diese zehn Fragen hatten mich nun tagelang beschäftigt, und ich hatte mich der Lösung schon ein Stück näher gefühlt, indem ich sie einfach aufgeschrieben hatte.

Meine Gedanken drifteten langsam in das Land der Träume ab und ich ließ mich davon treiben, froh über die Entspannung, die meinen Verstand entlastete.

Ich träumte davon, wieder durch den Wald zu radeln, zu meiner Rechten befand sich diesmal jedoch ein ausgelassener Arthur. Er schenkte mir ein seltenes Lächeln. Je weiter wir in den Wald hineinfuhren, desto mehr erinnerte er mich an einen Regenwald, wie aus einer Dokumentation, die ich in der Schule gesehen hatte. Arthur plapperte munter weiter, während die Umgebung wie ein alter Fernsehbildschirm zu flackern begann. Erschrocken hielt ich an und sah, wie Arthur in der Ferne verschwand. So als hätte er gar nicht bemerkt, wie ich zurückgeblieben war.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt