Kapitel 51

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Mir wurde warm und ich fühlte eine plötzliche Leere in meinem Bauch. Dieses Gefühl, als ob dir jemand den Boden unter den Füßen wegzieht und du keine Ahnung hast, was gerade vor sich geht – du weißt nur, dass es ganz und gar nicht gut ist.

Jetzt machte es wieder Sinn. Meine Mum wollte, dass ich sie „Mama" nannte. Wenn ich mich nicht ganz irrte, hieß das „Mutter" auf Deutsch. In der Schule hatte ich Französisch und Spanisch belegt und beides mit wenig Eifer gelernt. Deutsch hatte ich nur in den zwei Wochen gehört, die ich in Deutschland verbracht hatte.

Dementsprechend hatte ich keine Ahnung, was der Mann gerade von sich gab.

Ein wenig panisch beobachtete ich Theresa, die mir gegenüber strahlend in der Reihe stand.

Zustimmendes Gemurmel erklang und ich hoffte, in welchem Schlamassel auch immer ich mich befand, nicht aufzufallen.

„Dann wollen wir mal!", erklärte James und unterbrach den deutschen Redner. Ich musste innerlich lächeln. Er schien sich nichts sagen lassen zu wollen.

Das Dutzend Menschen stellte sich in einer anscheinend eingespielten Formation auf. Max grinste Theresa zu, die beiden standen hinter mir.

Oh Gott, wurde von mir jetzt irgendetwas erwartet? Hilflos blieb ich stehen, bis mich ein blonder junger Mann ansprach.

„Anna!" Er sprach beide A's des Namens wie das Letzte der beiden aus. Merkwürdig. „Ich dachte, du hast mich vergessen!"

Zum Glück sprach er Englisch. Wenn auch mit einem abgehackten Akzent.

Mein einziges Problem war nun, dass ich keine Ahnung hatte, wer er war. Er hatte ungefähr meine Größe, einen strengen Haarschnitt und recht grobe Gesichtszüge. Auch wenn er nicht unattraktiv war, irgendetwas störte mich an seinem Aussehen. Er wirkte mir ein wenig zu selbstbewusst, wie jemand, der zu viel redete und sich dabei immer in den Mittelpunkt stellen musste. Trotzdem musste ich jetzt mitspielen und so tun, dass mich seine Anwesenheit genauso erfreute wie ihn die meine.

„Natürlich nicht. Ich bin nur ein wenig müde", erklärte ich mich.

Er grinste fast mitleidig und bot mir dann seinen Arm an. Anscheinend lief da was zwischen Anna und... wie auch immer er hieß. Na super.

In Zweierreihen bewegten wir uns um Punkt 7:50 Uhr durch die riesige Eingangstür Hawthorne Manors.

Klickende Geräusche und ein blitzender Fotoapparat erwarteten uns. Etwas irritiert blinzelte ich, um das schwarze Echo loszuwerden, das der Blitz auf meiner Netzhaut hinterlassen hatte. Welche Presse hatte an dieser merkwürdigen Formation aus Deutschen und Briten ein Interesse?

Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Theresa von Feierlichkeiten geredet. Und James von einer Schande, die auf den Hawthornes lag.

Ich würde echt versuchen müssen, James abzupassen. Er schien mir als einziger der anwesenden Personen dazu fähig, Licht ins Dunkel zu bringen, ohne mich dabei gleich so verstört anzuschauen, wie Theresa es getan hatte.

Instinktiv klammerte ich mich an meiner Begleitung fest. Vor mir erstreckte sich die Senke, die das Landhaus umgab. Entgegen meiner Erinnerung, auf die wohl nicht zu vertrauen war, war sie nicht mehr komplett leer. Grauer Nebel hing über den Dächern einer grauen, gleichförmigen Stadt. Ich erblickte einzelne Lichter in den mehrstöckigen Würfeln, die man wohl Häuser nennen konnte. Am Horizont stieg Rauch auf und die Luft stank beißend nach Abgasen. Es war erschreckend leise, kein geschäftiges Treiben war zu vernehmen. Während wir auf die erste Häuserreihe zuliefen, warf ich schnell einen Blick nach hinten. Das alte Landhaus sah verletzt aus, es hatte sein Dach verloren und dafür eine schrecklich schlichte Fassade bekommen. Es schüttelte mich.

„Alles in Ordnung?", flüsterte mir der Junge zu, dessen Arm ich zerquetschte.

Ich nickte tapfer, unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben. Die gespenstische Stille war vermutlich mit der Leere des kurzen Weges von dem Haus auf dem Hügel hinab in die dreckigen Straßen in Verbindung zu bringen. Bis auf die wenigen Fotografen waren wir noch keiner Menschenseele begegnet.

Als meine innere Uhr 7:55 Uhr schlug, spürte ich ein leichtes Vibrieren an meinem linken Arm, der Arm an dem der hässliche Uhrenklotz befestigt war. Etwas erschrocken beobachtete ich das Schauspiel, das sich mir bot.

Aus den Würfeln, die wir als erstes erreichen würden, strömten Menschen. Sie traten auf die breiten Straßen und bildeten eine kleine Gasse. Eine Gasse, auf die wir exakt zusteuerten. Ein wenig panisch musterte ich die restlichen Mitglieder der Gemeinschaft. Auch ihnen schien es unangenehm zu sein, zumindest rückten sie ein wenig dichter zusammen.

Je näher wir der Menschenmenge kamen, desto mehr verächtliche Gesichter konnte ich erkennen. Und die hochgereckten Nasen, die gerunzelten abfälligen Stirnen. Das mir unbekannte Paar, das vor dem Jungen und mir lief, senkte die Köpfe. Genauso wie meine Begleitung. Ich tat es ihm gleich und starrte zu Boden. Aus dem Augenwinkel sah ich gerade so, dass die Anführer unserer Prozession, der ältere deutsche Mann und seine Frau, erhobenen Hauptes vorangingen. Und ich war mir beinahe sicher, dass sie nicht ganz so viele Blicke ernteten.

Die Schuhe der Menschen rechts und links von uns waren alle gleich, alle schwarz und klotzig. Mir wurde fast schwindlig und ich war froh, als die Reihen sich lichteten. Vor uns erstreckte sich nun ein Platz, das konnte ich mit halbem Auge sehen. Ein wenig ängstlich linste ich zu dem Jungen rüber, und sah, wie dieser seinen Kopf wieder normal hielt.

Eine Tribüne ragte vor uns in die Höhe. Ich sah, wie die beiden Deutschen Anstalten machten, hinauf zu gehen. Alle folgten, ich ebenfalls. Dann saß ich auf einer Tribüne, mit keinem blassen Schimmer, wo ich mich befand, was los war und warum meine Hand so verdammt weiß war.

Vielleicht mag man es der völligen Sinnesüberflutung zuschreiben, dass ich die Flaggen nicht gesehen hatte. Vielleicht auch dem schrecklichen Smog, der in den Straßenschluchten hing. Doch erst als ich mich zur Absicherung zu allen Seiten umdrehte, sah ich die riesigen Banner und fiel fast vom Stuhl. Dort, hinter mir, hing die Union Jack. Mit einem fetten Hakenkreuz in der Mitte.

Alle Befürchtungen, die mich überkommen hatten, bewahrheiteten sich. Der aufkommende Lärm einer ankommenden Menschenmenge wurde stumpf. Mein Blickfeld wich schwarzen Punkten und es sah so aus, als wäre die Welt in Stroboskoplicht getaucht. Nach jedem Blinzeln sah ich wieder dieses schreckliche Bild vor mir, diese Verunstaltung meiner landeseigenen Flagge mit diesem verbotenen Symbol.

„Verheerende Komplikationen. Du magst es vielleicht noch nicht gemerkt haben, aber es wird Auswirkungen haben. Auf dich, auf deine Welt. Und auf uns. Du, Annabelle, musst dafür sorgen, dass alles wieder in Ordnung kommt."

Oh mein Gott. Er hatte Recht gehabt. Die Vergangenheit war verändert. Die Vergangenheit hatte meine Gegenwart verändert. Sie hatte alles ausgelöscht, was ich kannte. Meinen Körper, mein Leben, meine Welt. Mein freies, demokratisches England war zu einer Marionette geworden, zu einem faschistischen Staat.

Aufständische. Das hatte Theresa gesagt.
Arthur hatte mir erzählt, dass Winston Churchill nach Hawthorne Manor kommen würde. Zählte das als Widerstand? Die Kollaboration mit einem Kriegsgegner? Das Angebot von Asyl?

Noch dringender als vorher musste ich mit James sprechen. Doch der saß schräg vor mir auf einem robusten Stuhl, zur Schau gestellt auf einer Tribüne vor Tausenden von Menschen, die sich langsam in ordentlichen Blöcken versammelten. 

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now