Kapitel 53

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„Du – du erinnerst dich?" Ich musste mich bemühen, meine Stimme nicht vor Aufregung zu erheben. Er erinnerte sich an mich. Das erste Indiz, dass mein bisheriges Leben überhaupt existiert hatte. Erleichterung durchströmte mich. Alles würde gut werden, wenn er mich über die Vergangenheit aufklärte.
„In einer Stunde an eurem Lieblingsort. Bring nichts, was für dich unnütz ist." Er warf mir einen bedeutungsschweren Blick mit seinen etwas trüben Augen zu.
Eine Stunde. Das Treffen war also um 11:01:57:02 Uhr.
„James, James... du bist schon wieder verwirrt! Hör nicht auf deinen Großvater, mein Liebes. Er erzählt nur Stuss!" Meine Großmutter tätschelte liebevoll meinen Arm. Obwohl ich wusste, dass sie Unrecht hatte, widersprach ich nicht. Ich sah nur den warmen Schimmer in James' Augen. Das war genug, um wieder meine Hoffnung zu entfachen. Da war ein Weg, wenn ich wusste was schiefgegangen war. Dann würde ich alles richten können.
Elizabeth zog den gut betagten Mann von mir fort. Ich blickte dem alten Ehepaar hinterher. Seit meinem Erwachen hatte ich das erste Mal wieder das Gefühl, auf sicherem Grund zu stehen.
Euphorisch ging ich zurück zu den letzten Resten der Versammlung.
„Anna, ich verstehe nicht, was du an Otto findest", erklärte Max. Ich hätte ihn dafür umarmen können, so sehr hatte er Recht. Die kurze Zeit, die ich Otto nun kannte, hatte schon gereicht.
Theresa sprang zum Glück für mich ein.
„Also ich finde meinen Cousin recht attraktiv. Er ist der perfekte Deutsche. Blond, groß, athletisch." Als sie ‚groß' sagte, schauten Max und ich uns an und mussten beide kichern. Theresa schwärmte für meinen Geschmack ein bisschen zu viel.
„Hey, ihr beiden! Es kann ja nicht jeder so riesig sein wie du, Max. Anna, ein bisschen Unterstützung?"
Mit belanglosem Geplänkel begaben Theresa und ich uns auf mein Zimmer, Max verabschiedete sich mit den Worten „Ich muss noch Papa bei der Versammlung unterstützen."
Meine Mutter bedachte mich die ganze Zeit nicht mit einem einzigen Blick. Das verwunderte mich doch ein wenig.
Um 10:43:09:28 Uhr verschwand auch das nervige Plappermaul und ich blieb allein zurück.
Sofort schweiften meine Gedanken zurück zu diesem einen Moment in der Eingangshalle. Ich vergrub meinen Kopf in das muffige Kopfkissen, um meinen neuen Körper und diese verzerrte Welt für einen Moment auszublenden
Seine Worte waren für Annabelle gewesen. Ich rekapitulierte sie.
Mit einem Mal fiel mir auf, dass Elizabeth vielleicht doch Recht gehabt hatte. James hatte Stuss erzählt.
Anstatt mir einen richtigen Treffpunkt zu nennen, hatte er den Ort nur „euren Lieblingsplatz" genannt. Und was sollte der Zusatz mit dem „Bring nichts, was für dich unnütz ist"?
Wie war ich so von der bloßen Tatsache, dass er meinen Namen gesagt hatte, geblendet gewesen?
Der Countdown betrug nun gerade einmal Sechzehn Minuten, Einundzwanzig Sekunden und Fünfunddreißig Millisekunden, bis mein Großvater mich irgendwo erwarten würde.
Das Einzige, was mir zu Lieblingsplatz einfallen mochte, war der wunderschöne Wintergarten.
Zwei Fragen warfen sich jedoch damit auf. Erstens, woher sollte James wissen, dass das mein Lieblingsplatz war? Und zweitens, wen meinte er noch, wenn er „ihr" sagte?
Ungeachtet der Schwierigkeiten beschloss ich, mich vorerst mit dem Nachsatz zu beschäftigen. Ich sollte nichts mitbringen, was unnütz war.
Verwirrt runzelte ich meine Stirn und klopfte das hässliche Kleid ab. Waren da irgendwelche Taschen?
Nein, es ließen sich keine finden.
Der Nachdruck, der in seiner Stimme gelegen hatte, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. James war es wichtig gewesen, dass ich mich daran hielt.
Ich stellte mein Zimmer auf den Kopf, ohne wirklich zu wissen, was ich eigentlich suchte.
10:57:42:51 Uhr. Meine Zeit lief ab.
Hektisch rannte ich ins Bad und schaute in mein neues Gesicht.
Zu meiner Beruhigung sah ich diesen Blick mit dem aus Gewohnheit leicht hervorgeschobenen Kiefer. Okay.
Annabelle, tief durchatmen.
Ich konzentrierte mich darauf, wie die Zahlen sich beständig änderten, wie die Millisekunden zu Sekunden wurden, dann zu zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, einer halben Minute.
Mit einem plötzlichen Geistesblitz kontrollierte ich meine Ohren auf Ohrringe. Fehlanzeige.
Aber Schmuck war schon einmal ein guter Ansatzpunkt. Dinge, die man nicht brauchte und nur aus ästhetischen Gründen trug.
Mein neuer Körper trug jedoch weder eine verstecktes Amulett noch ein Fußkettchen, geschweige denn ein Piercing in der bleichen Haut. Das hätte mich auch ziemlich gewundert.
Um 11:00:58:57 Uhr fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich.
Es war meine Armbanduhr. Mit dem Schmuck hatte ich richtiggelegen.
Trotz des ungewohnten Gefühls von Gewicht hatte ich seit heute Morgen keinen Blick mehr darauf geworfen. Wozu auch? Ich hatte meine eigene Privatuhr.
Das war es!
Meine Armbanduhr war für mich persönlich der unnötigste Gegenstand, den ich je angelegt hatte. Und ich wäre die einzige Person, die das verstehen würde. James hatte seine Worte gezielt gewählt.
Doch woher wusste er davon?
Ich hatte Arthur von den Zeitreisen erzählt. Eine Uhr hatte ich meiner Erinnerung nach nicht erwähnt, oder?
Hieß das, dass ich vielleicht doch noch dazu kommen würde, in die Vergangenheit zu reisen?
Es kribbelte angenehm in meiner Magengrube.
Warum war ich dann immer noch in diesem gottverdammten Loch von einer Welt?
Wenn eine erneute Zeitreise möglich war, wieso hatte ich nicht alles zum Guten abgewendet?
Verzweifelt fuhr ich mir durch meine neuen, schweren Haare. Die Situation war verzwickt. Einerseits wusste ich nun, dass ich wieder in die Vergangenheit gelangen konnte. Andererseits schien das nicht zu heißen, dass alles besser wurde.
Was konnte ich also noch ausrichten?
Naja, den Versuch war es wert. Wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass ich zurückkehren konnte... Ich würde alles dafür tun. Dafür, dass ich nicht auf einer Bühne vor einer Horde von Geiern zur Schau gestellt wurde. Dafür, dass Max sich nicht mehr so untypisch verhielt. Dafür, dass ich Maggie wiedersehen konnte. Dafür, dass ich zurück in mein sorgenfreies Schwimmteam gehen konnte. Dafür, dass die gesamte Welt nicht unter der Kontrolle von Nazis stand.
Ich legte das parasitäre Gerät ab. James musste seine Gründe gehabt haben. Man musste abgehört werden, kontrolliert werden über das Teil. Ich fragte mich, ob irgendjemand bemerken würde, dass ich es losgeworden war. Max war vorhin sehr drängend gewesen, Theresa auch. Ich erinnerte mich an das Vibrieren, auf das alle Menschen auf die Straße geströmt waren. Langsam begriff ich, wie das neue Regime seinen Einfluss bestärkte. Grausam, dieser Eingriff in die Privatsphäre. Menschliche Grundrechte mussten wohl nicht zu diesem neuen Staat gehören.
Einmal mehr wurde es unumgänglich, dass ich mir Informationen über das neue England holte.
Um mein Trödeln auszugleichen, beeilte ich mich nun auf dem Flur. Meine Füße trugen mich wie von selbst über den Korridor hinein in den stickigen, dunklen Raum voller Geschichtsbücher.
Jetzt war er kahl, als hätte jemand versäumt, ihn mit Möbeln zu füllen. Seine weiß gestrichenen Betonwände und der sterile Marmorboden erinnerten mich eher an das Krankenhaus von Green Hill. Das war sogar mit seinen altmodischen Farben um einiges schöner gewesen.
Entsetzt durchschritt ich den Raum und ging durch die neue Glastür. Sie führte mich in den unveränderten Glaskasten, in dem mir nur die neuen Glasscheiben auffielen. Sonst war alles exakt so geblieben, wie ich es kannte. Die beiden Chaise-Longues, die Pflanzen in den massiven Marmorsockeln.
Mein Großvater war noch nicht da. Ich ließ mich auf einem der Möbelstücke nieder und strich über das blumige Polster. Natürlich war es das Muster der hellroten Rose. Es war mir aus der Wirklichkeit (ich beschloss, mein zuhause so zu nennen) auf diesem Stoffbezug unbekannt. Irgendwer hatte es dorthin platziert.
Der Blick in den Innenhof war gleichzeitig erschreckend und wunderschön. Die Natur war verwildert und von einem grauen Nebel umfangen, der sich auf den Glasscheiben abgesetzt hatte. Ein knorriger Baum mit einigen wenigen verkümmerten Ästen in dem satten Grün erhob sich bis zum Flachdach des geköpften Hauses, gerade so, dass man seine Krone von außerhalb nicht sehen konnte.
Das Gras war so hoch, dass es ein wenig ungemäht aussah. Die Pracht des Innenhofs war nicht vollständig verschwunden. Ein trauriges Bild einstiger Schönheit bot sich mir, wie ein Echo aus vergangener Zeit.
Diese ganze Welt war doch nur ein Echo. Man konnte ja nicht behaupten, dass das neue System funktionierte. Die Bevölkerung wurde offensichtlich mithilfe von digitalen Armbändern kontrolliert, Minderheiten öffentlich bloßgestellt. Mütter ignorierten ihre Kinder. Smog belastete die neuen Zweige der Zivilisation. Die Häuser erinnerten an den übelsten Kommunismus. Ich wollte mir gar nicht erst ausmalen, wie viele Menschen unter den fünfundsiebzig Jahren Diktatur gelitten hatten, getötet worden waren, wie die Tiere. Es ekelte mich, dass mein Planet, meine Welt, all das ertragen musste. Wenn auch nur in einer alternativen Gegenwart.
Es war das Echo von einer verirrten Ideologie, die Folgen des Wahnsinns einiger weniger Menschen. Etwas, was man sich mit allgemeinen Geschichtskenntnissen nicht ausmalen mochte.
Ich sah die Wirklichkeit plötzlich in einem neuen Licht. Wie dankbar konnte ich sein, als Dunkelhäutige in einem gerechten, menschenwürdigen Staat ohne Unterdrückung aufgewachsen zu sein. All diese Strömungen, die den Nationalismus befürworteten, die lauten Stimmen über den Brexit – sie wussten nicht, wohin das führte. Ich konnte es jetzt sehen, mit meinen eigenen Augen. Das Ausschließen von Menschen, die Abschottung, die Überhöhung über Andere.
Wollten diese Leute auch in solch einer Welt leben?
Klar, kein einziger Nicht-Europäer lief durch die Straßen der neuen Stadt. Vermutlich existierten sie nicht einmal mehr.
Was hatte man stattdessen? Eine aufgehetzte Menge, die auf das Wort von einem Mann hörten, dessen Bluthochdruck vermutlich seinen Verstand benebelte.
Wieso durfte ich zu meiner Mutter nicht guten Gewissens „Mum" sagen?
Wieso bekamen die Leute Angst und senkten ihre Stimmen, wenn man Dinge außerhalb des von der Regierung akzeptierten Rahmens sagte?
In so einer Welt wollte ich nicht leben.
Die zweite Tür zum Flur ging auf. Mein Hoffnungsträger schloss sie wieder sorgsam hinter sich und setzte sich in Zeitlupengeschwindigkeit auf die Sitzgelegenheit vor mir. Ich beobachtete ihn zum ersten Mal wirklich aufmerksam.
Seine Haut war sehr faltig, aber nicht so faltig, wie ich es bei einem Neunzigjährigen erwartet hatte. Seine graublauen Augen waren etwas trüb und wirkten dennoch aufmerksam. James hatte fast alle Haare verloren, bis auf einen weißen Kranz und einen dünnen Flaum, der über seinem Kopf lag. Seine Augenbrauen waren ausdrucksstark und ein wenig verwachsen. Er war sauber rasiert, sodass seine Wangenknochen spitz hervorstachen. Er war keineswegs unterernährt, sein Gesicht hatte immer noch die recht attraktive Form beibehalten. Nur der Zahn der Zeit hatte an ihm genagt. Sein Körper war schlaff geworden und ich sah, wie anstrengend der Aufstieg in diesen Raum für ihn gewesen war.
„Grandpa", äußerte ich mich. Befreit von der Uhr fühlte ich mich gleich mehr wie ich selbst.
„Belle. Dass ich diesen Tag noch erlebe, daran habe ich mich festgehalten. Vor zwei Jahren wollte er mich holen. Nein, habe ich gesagt!" Er schaute erregt. „Nein. Ich darf nicht gehen, bis ich dich gesehen habe. Niemand darf mich mitnehmen. Bis ich ihren Tod gerächt habe."
Ich war ein wenig eingeschüchtert, vor allem, weil sein Blick verschwamm.
„Er hat ihn umgebracht!", rief er aus. „Hitler!"
Ängstlich bat ich ihn, seine Stimme zu senken. Keiner von uns trug seine SmartWatch. Doch die Wände waren dünn und es war beinahe unvermeidlich, gehört zu werden.
„James. Warum hast du auf mich gewartet? Warum bist du immer noch hier?", fragte ich.
„Muss es... muss es dir sagen. Er wollte es, auch wenn er tot ist. Schon so lange, beinahe Fünfundsiebzig Jahre."
„Wer ist tot, James?"
„Mary? Was machst du hier?" Er wirkte sehr verwirrt.
„Annabelle. Du sprichst mit Annabelle", erwiderte ich ein wenig genervt. Meine einzige Hoffnung lag auf diesem alten Mann, den das Überdauern seiner Tage anscheinend dement gemacht hatte. Die Stärke, die ihn vorhin auf der Tribüne wie eine Aura umgeben hatte, war verschwunden.
„Ach, richtig. Meine Enkelin, mein Liebling. Endlich habe ich dich wieder. Nicht diesen bösen Geist, den sie in deinen Körper gesteckt haben." Er lächelte und sah beinahe liebenswert aus.
„Wer ist tot, Gramps?" Ich hoffte, mit diesen Worten irgendeine Erinnerung auszulösen.
„Aber das weißt du doch, Dummerchen. Dein Liebling, Arthur. Du hast ihn doch sterben sehen, erinnerst du dich nicht?"
„Was?", rief ich entsetzt. Arthur war tot? Seit Fünfundsiebzig Jahren? 
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Frohes neues Jahr!
2018, in diesem Jahr setze ich mir nur ein Ziel: mein Buch fertig schreiben.
Habt ihr irgendwelche Vorsätze oder ist euch das egal? ;)

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now