Kapitel 76

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Trotz starkem Schwindel ließ ich mir von James aufhelfen. Die Welt war immer noch verschwommen und schwarze Sternchen tanzten in meinem Sichtfeld.

Eine etwas müde wirkende, aber dennoch stabile Maggie begab sich auf meine linke Seite und legte meinen Arm um ihre Schulter. Komplett auf James gestützt ließ ich mich über die Leichen aus dem Flur tragen. Er schleifte mich eher mit, als dass ich von allein mich fortbewegte. Aus allen Richtungen hörte man geschäftiges Treiben, doch war bisher niemand zu sehen. Es konnte sich nur noch um wenige Sekunden handeln, deshalb mussten wir so schnell wie möglich aus dieser Etage und dann aus diesem Gebäude heraus.

Wir stolperten die Treppe hinunter. Ich kann mich nicht mehr recht erinnern, wie wir zum rettenden Auto gelangt waren, ich weiß nur noch, dass es tief in der Nacht war und dass ich auf dem Rücksitz zusammengebrochen war. Maggie schien einigermaßen munter, denn ihr interessiertes Stimmchen störte meinen Dämmerzustand zwischen Bewusstlosigkeit und Halbschlaf.

In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1955 passierten wir das meterhohe Tor aus Gitterstäben, das den Eingang zu den Ländereien Hawthorne Manors markierte. Vor zwölf Tagen hatte ich es zum ersten Mal durchschritten und seitdem hatte sich mein Leben von Grund auf geändert. Ich hatte die Welt, in der ich siebzehn Jahre lang bedenkenlos gelebt hatte, zu schätzen gelernt, ich hatte herausgefunden, was Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie und Sicherheit tatsächlich bedeuteten. Mehrfach war ich der Gefahr von der Schippe gesprungen, hatte meinem Vater nicht blindlings vertraut, sondern seine Motive hinterfragt – kurzum, ich war wahnsinnig stolz auf mich selbst, und ich bildete mir ein, dass dies auch gerechtfertigt war.

Maggies niedliches Kinderprofil täuschte – tatsächlich war sie beinahe so alt wie ich, nur die Zeitreisen hatten sie verjüngt. Ihre grünen Augen leuchteten im Licht der aufgehenden Sonne und ich wusste, dass ich das Richtige getan hatte. Sie würde hier nun behütet weiter aufwachsen können. Ihr Leid konnte ich ihr nicht nehmen oder zumindest nicht verhindern, wenn ich weiterhin existieren wollte. So einfach war das. Aber ich hatte mein Bestes gegeben, um ihr ein erfüllteres Leben zu ermöglichen.

Im Fuhrpark vor dem riesigen Haus richtete James sein Gebrabbel an mich, vorher hatte er in allen Tönen von Hawthorne Manor geschwärmt.

„Du darfst nicht mit hinein, das hast du selbst gesagt", erklärte er.

Maggie schaute mich an, als würde sie meine Anwesenheit erst jetzt bemerken. Sie war die wahre Heldin, doch ich hoffte, dass ich ihr irgendwie hatte helfen können.

„Danke", sagte sie ehrlich, „dass du nicht gelogen hast und dass du mich aus diesem Loch geholt hast. Ohne dich hätte ich sie nicht besiegen können."

Gerührt lächelte ich.

Maggie tätschelte mir den Arm. „Wie ich gehört habe, sehen wir uns in einigen Jahren wieder."

„Oder in einigen Stunden für mich", fügte ich hinzu. Daraufhin lächelte sie zurück.

„Klingele schon einmal", forderte James sie auf.

Mit einem Knallen schloss sie die Autotür hinter sich.

„Das ist eine der letzten Male, dass ich dich sehen werde", stellte James fest. „Zumindest in deiner jetzigen, erwachsenen Form."

„Es ist das letzte Mal", korrigierte ich ihn und sah einen Schimmer Trauer in seinem Gesicht. Nach dieser ganzen Geschichte würde ich das Zeitreisen sein lassen.

„Ich liebe dich, meine Enkelin, und ich werde immer bei dir sein." Es klang wahnsinnig komisch, aus seinem jugendlichen Mund diese Worte zu hören.

„Ich weiß", erwiderte ich noch gerührter und spürte beinahe die Tränen hochkommen.

„Ich möchte dich noch ein letztes Mal umarmen", sagte James und wir stiegen aus dem ächzenden Wagen. Seine starken Arme hielten mich, und es tat mir leid, ihn verlassen zu müssen, selbst wenn ich ihn in 1940 wiedersehen würde.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now