Kapitel 16

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Verdattert schaute ich ihn an.

„Warum kann ich dann aber genau hören, was der Radiosprecher sagt?"

Max sah ratlos aus. „Ich höre nichts. Bist du dir ganz sicher?"

Ich nickte.

„Okay, tun wir jetzt einfach mal so, als würde ich diese merkwürdige Tonspur auch verstehen. Was hast du als nächstes gemacht?"

Ich überlegte. Vorhin hatte ich gedacht, das wäre eine Spaßsendung vom BBC oder so gewesen. Dann hatte ich umschalten wollen, ich hatte an dem Rädchen, mit dem man den Radiosender einstellte, gedreht. Wie magnetisch angezogen näherten meine Finger sich diesem Rädchen und drehten es nach rechts, bis es einrastete.

Augenblicklich erklangen wieder die unangenehmen Töne. Schmerz durchzuckte mein Trommelfell und meinen Bauch.

Ich sah, wie Max mit seinem Mund die Worte „Was ist los?" formte, hörte sie aber nicht. Die hohen Töne überlagerten alles. Ein weiterer Ton kam dazu und traf mich wie ein messerscharfer Dolch.

Wieso merkte Max nichts davon? Wieso war ich die einzige von uns beiden?

Weiterer pochender Schmerz in meinem Bauch zwang mich dazu, mich auf dem Boden zusammenzukrümmen. Das kantige Buch in meiner Bauchtasche drückte in meinen Oberschenkel. Nur mit großer Mühe konnte ich verhindern, dass mir Schreie entwichen. Keuchend stieß ich Luft aus, die ich unbemerkt angehalten hatte.

Hatte es letztes Mal auch so wehgetan? Wieso war es so schlimm?

Die Qual schien nicht zu enden. Max sprang mittlerweile um mich herum, rüttelte an meiner Schulter. Ich nahm ihn kaum war. Meine Augenlider waren aufeinander gepresst und meine Hände drückten auf meine Ohren, nicht dass das etwas gebracht hatte.

Irgendwann, als ich glaubte, dass es nicht schlimmer werden konnte, war alles weg.

Ich befand mich wieder in diesem Zustand zwischen den Welten, frei von Zeit und Raum.

Egal, wie unheimlich das klang, ein schlichtes Glück erfüllte mich.

Mit einem Poltern lag ich wieder auf den gleichen Holzdielen, auf denen ich eben schon eingerollt gelegen hatte, nur dass sie jetzt viel neuer aussahen.

Der Schmerz, der mit meinem Erscheinen sofort wieder eingesetzt hatte, ließ allmählich nach.

Erleichtert seufzte ich und strich mir die Haare von meiner schweißnassen Stirn, als ich mich aufsetzte.

Meine Sicht wurde mit jedem Wimpernschlag klarer. Ich schaute auf einen Türrahmen. Und genau in dessen Mitte stand eine Silhouette. Verzweifelt kniff ich meine Augen zusammen, bis ich eine Person erkannte, die mich mit kritischem Blick musterte.

Es war Arthur Spencer, gutaussehender Foto-Typ.

„Geht es Ihnen gut?" Es war das erste Mal, dass ich den warmen Klang seiner Stimme hörte. Und ich frage mich immer noch, ob er gesehen hatte, wie ich plötzlich erschienen war oder ob er Angst vor mir gehabt hatte. Denn die Frage nach meinem Wohlbefinden wäre so ziemlich das Letzte gewesen, was ich erwartet hatte. Dementsprechend lange starrte ich ihn an, bevor ich seine Frage bejahte. Er hatte dunkle, buschige Augenbrauen, die verwirrt zusammengezogen waren und seinem jungen Gesicht eine große Seriosität verlieh. Zwischen zwei dunklen, fast schwarzen Augen, die in den Farben des Wattenmeers schimmerten war eine schmale, gerade Hakennase. Er besaß hohe Jochbeine und war unheimlich attraktiv - vor allem durch seine kleinen, besonderen Makel, die zu dichten Augenbrauen und die etwas lange Nase.

„Wer sind Sie?", fragte er und verschränkte seine Arme. Ich wäre an seiner Stelle längst ausgerastet, so wie James oder Elizabeth. Immerhin kannte er mich nicht, hatte eventuell gesehen, wie ich mich in Luft aufgelöst hatte und jetzt wieder erschienen war. Aber er war komplett ruhig.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now