Kapitel 69

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„Jahrelang habe ich darauf gewartet, Arthur. Diesen Moment kannst du mir nicht nehmen."

„Stopp", rief ich, mir war ein Einfall gekommen.

Doch meine Stimme ging unter. 

Ein plötzlicher Knall. Ein Surren, direkt an meinem Arm, die Kugel verfehlte mich knapp, aber gezielt.

Ich zuckte zusammen.

Die Hand in meiner Hand zog mich herunter.

„Arthur!", schrie ich, als ich den rubinroten Fleck auf seinem waschmittelweißen Oberhemd sah.

Sein Blick war genauso verwirrt wie vorher, als er mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden aufkam.

Tränen verschleierten meine Sicht. Da, vor mir, lag Arthur.

Er hob seinen Kopf kaum merklich, um auf seine Brust zu schauen. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und ein schreckliches Röcheln entwich seiner Kehle.

„Aber das weißt du doch, Dummerchen. Dein Liebling, Arthur. Du hast ihn doch sterben sehen, erinnerst du dich nicht?"

James' mysteriöse Worte geisterten durch meinen Kopf.

Das konnte nicht wahr sein. Ein Schluchzer entwich mir. Diese unendlich schönen, dunklen Augen wurden ein wenig stumpf. Arthur machte ein abscheuliches Geräusch, das sowohl an ein Husten als auch an ein Keuchen erinnerte und Blut lief ihm die Mundwinkel herunter.

„Nein", murmelte ich geistesabwesend, während ich meine Hände auf seine warme Brust presste. „Nein, das darf nicht wahr sein..."

Ich schaute in sein Gesicht und erkannte seinen Blick. Er wusste, dass er es nicht schaffen würde.

Verzweifelt sah ich zu James, Lizzie, Maggie herüber. Ein völlig verstörter James versteckte das kleine Mädchen hinter sich. Maggie sah schockiert aus.

„Was hast du getan?", brüllte ich voller Abscheu. Die Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen, sie vermischten sich mit Rotz und Spucke zu einem ekelhaften Gemisch.

Ein Röcheln lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf den Hauptdarsteller, auf Arthur Spencer, Maggies Vater, die Person, die ich viel zu sehr mochte.

„Du darfst noch nicht sterben", flehte ich unsinnigerweise.

Und in diesem unwahrscheinlichsten Moment wich Arthurs schmerzverzerrte Miene einem Lächeln. Seine Augen gingen ruckartig in Richtung seiner rechten Hand. Mit meinen blutigen Händen umfasste ich sie und griff zu. Ein trauriges Lächeln schlich sich mit der Erkenntnis auch auf meine Lippen.

„Ich werde das reparieren", flüsterte ich, so dass nur er und ich hören konnten, was ich sagte. Wir wussten beide, dass keiner von uns so wirklich daran glaubte – schließlich hatte ich bisher bei jedem meiner Rettungsversuche versagt. Schier hoffnungslos sprach ich diese Worte aus.

Mit diesem gruseligen Lächeln im Gesicht nickte er und verbarg seinen Unglauben mit der Hoffnung eines Sterbenden.

Als das Licht seine Augen verließ, wusste ich, dass ich noch nicht allein war, sondern dass ich ihn wiedersehen würde. Ich musste fest daran glauben; es fühlte sich nämlich in jenem Moment so an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Mein Magen drehte sich um bei dem Anblick des ganzen Bluts, seines ganzen Bluts.

Trotzdem beugte ich mich vor, vergrub mein Gesicht in seine warme Schulter, die nach ihm roch und verharrte einen Moment, bis die Tränen weniger wurden.

Voller Hass wandte ich mich zu Maggie. Die Pistole lag wie ein Fremdkörper vor ihren Füßen. Begriff sie überhaupt, was sie gerade getan hatte?

„Wundere dich nicht", sagte ich feindselig. Auch wenn Maggie  ziemlich zerstört aussah, wollte ich – musste ich – nachlegen. Nicht nur die Genugtuung brauchte ich, sondern einen Sieg über ihre Verrücktheit.

„Siehst du diesen Körper?", fragte ich aufgebracht und zeigte auf die Leiche, deren warmes Blut an meinen Fingern klebte und auf meinen Wangen verschmiert war. „Das ist dein Vater. In 1940. Bevor es geschehen ist. Warum ist er nicht gekommen, um dich zu retten? Warum hat er dich nicht vor den Zeitlosen bewahrt? Weil du ihn umgebracht hast!", schrie ich. Aus dem Boot von James und Lizzie war das Weinen eines kleinen Mädchens zu hören.

Während ich sprach, hockte ich immer noch neben Arthurs lebloser Hülle. Ich war mir sicher, dass jeglicher Versuch, aufzustehen, kläglich gescheitert wäre.

Wie als wäre es noch nicht genug, wurde der Boden stark erschüttert. Ein Krachen, ohrenbetäubend, deutlich lauter als die drei Schüsse, hallte auf der Lichtung.

„Das war die erste Bombe", sagte Maggie mit gebrochener Stimme. In ihrem Gesicht flackerte Unsicherheit auf und ich glaubte beinahe, dass sie Angst hatte.

„Da sind sie!", hörte ich eine hohe männliche Stimme schreien.

Verwundert schaute ich an den Rand der Lichtung, wo zwischen den Bäumen einige Gestalten auftauchten. Wieso waren sie hier? Waren sie nicht gerade eben von der Bombe getötet worden?

„Deine Catherine war nicht so schwer zu besiegen", rief der Graf, der als Erster auf den Steg stürmte. Ein klein wenig Erleichterung durchströmte mich bei seinem Anblick, insbesondere weil er ein Jagdgewehr bei sich trug.

Gleichzeitig schien Maggies Maskerade endgültig zu fallen. Ihr Blick traf meinen, der ein wenig zu siegesgewiss ausgesehen haben musste.

„Sie war es", sagte Maggie leise. Stirnrunzelnd starrte ich zurück. Was hatte sie vor?

„Sie hat Arthur getötet, sie hat mich zu der Geiselnahme gezwungen. Da, sie hat Blut an den Händen. Und seht ihr die Waffe?", rief sie laut.

Noch bevor James widersprechen konnte, fokussierte der Graf auf mich. Inmitten des Chaos sah ich seinem fertigen Blick an, dass er jetzt alles glauben würde. Er hob das Jagdgewehr und –

Als ich Arthurs Hand losließ, warf ich noch einen schnellen Blick auf seinen beinahe friedlichen Körper. Dann rollte ich mich seitlich vom Steg herunter.

Wie bei einem schlechten Kopfsprung klatschte ich mit dem Bauch auf dem Wasser auf. Es war kühl und voll mit Algen. Ganz tief sog ich die Luft in meine Lungen ein und tauchte unter.

Peitschende Schüsse hagelten auf das Wasser, aber ich tauchte immer weiter.

Geleitet durch den Sonnenschein, der die Wasseroberfläche kennzeichnete, tauchte ich von dem Steg davon. Erst nach einer Minute traute ich mich, kurz nach Luft zu schnappen. Zeit war keine mehr, um sich umzuschauen. Meine Gedanken stoppten nach dem dritten Mal Luftholen aus Sauerstoffmangel, aber ich tauchte und tauchte und tauchte, bis meine Finger durch Schilf strichen.

Nach Luft ringend kam ich inmitten grüner Halme an die Oberfläche. Ich war mindestens hundert Meter getaucht und die Silhouetten am anderen Ende des Ufers waren deutlich kleiner geworden.

Zu Fuß würde es noch einige Zeit dauern, bis sie hier ankommen würden.

Erschöpft watete ich in möglichst geduckter Haltung aus dem Morast und rannte los, obwohl mich die Kraft zu verlassen schien. Ich rannte durch den Sommerwald, während ferne Bombeneinschläge den Boden zum Zittern brachten und immer noch Motorengeräusche zu hören waren.

Das Bild von Arthur mochte mir nicht aus dem Kopf gehen, von seinen erloschenen Augen und dem blutdurchtränkten Hemd.

Ich stolperte über eine Wurzel und fiel in den Dreck.

Blut war in meinen triefend nassen Kleidern. Meine Brust hob und senkte sich so schnell wie noch nie und mein Herzschlag pochte in den Ohren.

Arthur war tot, er war tot, er war tot.

Die Erschöpfung holte mich ein, wie ein alter Freund.

Ich fröstelte in der leichten Brise und trotz allem sangen Vögel ein trauriges Lied, das traurige Lied meines baldigen Untergangs.

Völlig willenslos gab ich nach und ließ mich mitnehmen in die Schwärze, die mir nur allzu bekannt vorkam. Verdammt. 

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now