Kapitel 1

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„Es ist genau 17 Uhr 38." - Minuten, 45 Sekunden 10 Millisekunden; Donnerstag: 18. Juni 2015, fügte ich innerlich hinzu.

„Spät genug. Annabelle Richardson, steig endlich aus", fauchte meine Mutter zurück.

„Schon gut", beschwichtigte ich sie, ohne darauf hinzuweisen, dass ich noch über zwanzig Minuten Zeit hatte, bis ich erwartet wurde. Wenn sie meinen vollen Namen benutzte, dann war es ihr ernst.

Das schwarze Leder des Autositzes klebte an meinen Oberschenkeln. Ich öffnete die Tür des erdbeerroten BMWs.

Sofort wallte mir eine unsägliche Hitze entgegen. Es war kaum kühler als in London, wo die stickige Luft zwischen den hohen Straßenschluchten gefangen war. Fünf Stunden Autofahrt bis zu diesem Kaff. Kein einziger Ort im Umkreis von zehn Meilen, denn hier befand sich nur das Anwesen meiner Großmutter Elizabeth.

Es war an einem Wochenende kurz vor den lang ersehnten Ferien gewesen, als meine Mutter mir eröffnet hatte, dass ich den Sommer hier verbringen würde. Natürlich war ich alles andere als begeistert, irgendwie aber auch neugierig gewesen. Seit Jahren war meine Mutter mit meiner Oma zerstritten – warum auch immer. Ich kannte Elizabeth kaum, wusste aber nur, dass sie in einer riesigen Villa mitten im nirgendwo wohnte. Meine Ferienpläne mit meinen Freunden aus dem Schwimmteam hatten sich natürlich erledigt. Danke, Mum.

Seufzend stolzierte ich zum Kofferraum. Meine Mutter und ich hatten kaum miteinander gesprochen, seit wir unsere Wohnung im Westen Londons verlassen hatten.

Ich verbrannte mir fast meine dunkle Haut, als ich den Kofferraum öffnete.

Unter lautem Fluchen nahm ich meine viel zu schwere Tasche hinaus. Kaum war der Kofferraum wieder geschlossen, quietschten die Reifen auf, und nur eine Staubwolke blieb zurück. Genervt blies ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Anscheinend war sie froh, mich endlich los zu sein. Ihr Verhalten konnte ich manchmal nicht ausstehen. Wahrscheinlich die einzige Gemeinsamkeit, die meine Großmutter und ich haben würden.

Ich wandte mich dem Tor zu, das vor mir aufragte. Es war pechschwarz und schnörkellos, schlichte schwarze Gitterstäbe ragten drei Meter in den Himmel, oben so spitz, dass sie einen problemlos aufspießen würden - vorausgesetzt, man hätte sie jemals erreichen können. Rechts und links des Tors erstreckte sich eine hohe Mauer aus runden Findlingen, wie sie so typisch waren für England. Nur deutlich höher und massiver, als man es von den normalen Cottages gewöhnt war. Die grauen Steine fügten sich winzig in die Mauer ein, die die Höhe eines zweistöckigen Einfamilienhauses hatte und zu beiden Seiten scheinbar in die Unendlichkeit verlief. Die Mauer sagte "Stopp, hier verläuft eine Grenze" - die man weder hinterfragen noch übertreten sollte.

Der Duft von Sommer lag in der Luft, ein emsiges Summen von Bienen durchbrach die Stille. Und keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen.

„Kann ich dir helfen?" Eine tiefe Stimme erklang.

Ein bisschen erschrocken schaute ich auf.

Ächzend öffneten sich die Torflügel, in deren Mitte ein schlaksiger, hochgewachsener Junge stand, vermutlich ein bisschen älter als ich. Er hatte strubblige hellblonde Haare und eine von Sommersprossen gesprenkelte Hakennase. Obwohl er viel größer war als ich, schien er in dem Tor erbärmlich klein. Er blickte abfällig auf mich herab.

„Ich denke schon", antwortete ich auf seine Frage. „Ich bin Belle Richardson, die Enkelin von Elizabeth Richardson...?" Ich endete den Satz wie eine Frage. Weit und breit war kein Haus zu sehen und ich hoffte insgeheim, dass meine Mutter den Weg hierher nicht vergessen hatte oder sich verfahren hatte. Sie war ja seit Jahren nicht mehr hier gewesen.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now