Kapitel 3

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„Hast... hast du etwas gesagt?", vergewisserte ich mich.

Elizabeth lächelte geheimnisvoll, schüttelte aber den Kopf, so als würde ich Stimmen hören. Was für ein Test? Wofür denn?

„Nun, Belle, du bist mir immer noch sehr sympathisch. Magst du lesen?"

Ich zuckte mit den Schultern. Immer noch sympathisch? Wann hatten wir denn die Gelegenheit gehabt, einander sympathisch zu sein, als ich drei Jahre alt gewesen war?

„Eigentlich schon. Früher habe ich mehr gelesen, aber in London ist mir ein wenig die Lust daran vergangen." Ihre komische Redewendung versuchte ich, zu ignorieren.

Sie grinste, wirkte aber etwas verkniffener als vorher.

„Ich habe ein paar ganz vorzügliche Sammlerexemplare in meiner Bibliothek stehen. Einen ganzen Raum habe ich nur gefüllt mit historischer Literatur, meiner persönlichen Leidenschaft. Sie hat sich in den vielen Generationen, die unsere Familie zurückgeht angesammelt. Er liegt direkt gegenüber von deinem Zimmer. Lohnenswert, echt lohnenswert, dort mal vorbei zu sehen."

Noch mehr angestaubte, langweilige Räume...

Wie als könnte Elizabeth Gedanken lesen durchbohrte mich ihr klarer Blick und meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich wandte mich ab und schaute in die Landschaft.

Einen Moment lang blickten wir schweigend über die Wiesen zur tiefstehenden Sonne.

Dann ergriff ich das Wort: „Max hat erwähnt, dass er hier wohnt. Was ist mit seinen Eltern?"

Nach einer kurzen Pause antwortete meine Großmutter seufzend. „Ich sehe schon, du bist neugierig. Max kam als kleines Kind zu uns, wir haben ihn so gut wie adoptiert. Maggie hat ihn wie eine Mutter behandelt und für deinen Grandpa und mich war er wie ein Sohn. Max hat mir sehr geholfen, als dein Grandpa vor zehn Jahren gestorben ist.

Mit einem Kind im Haus hat man keine Zeit, Trübsal zu blasen."

Sie lächelte müde.

Ich ging nicht darauf ein, dass sie meine Frage nicht richtig beantwortet hatte, aber die Neugier hatte mich nun wirklich gepackt.

Was war mit Max' Eltern? Was hatte er für ein Schicksal?
Mir war irgendwie bewusst, dass es unhöflich war, jemanden nach seinen Eltern zu fragen, wenn diese ihn anscheinend nicht haben wollten oder verstorben waren. Aber Max' verkniffenes Verhalten hatte mich hellhörig gemacht.

In diesem Moment unterbrach ein weißblonder Haarschopf, der sich durch den Türspalt schob, meine Gedanken. Max trat auf die Terrasse. Wenn man vom Teufel sprach.

„Der Tee ist gleich fertig, Maggie meint, ihr sollt schon einmal in den großen Saal kommen."

So schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder und knallte die Tür kaum merklich hinter sich zu. So, dass man nur unterschwellig die Aggression mitbekam, die er zu verstecken versuchte. Was hatte er für ein Problem?

Elizabeth stand auf.

„Nun, dann wollen wir mal."

Ich folgte ihr in den „großen Saal", wie Max es arrogant genäselt hatte.

Der Saal war geschmückt mit alten Rüstungen und in der Mitte stand eine robuste Holztafel. Es erstaunte mich gar nicht mehr, was es in diesem Schloss eigentlich alles gab. Das meiste Mobiliar wäre nicht einmal 1950 modern gewesen, geschweige denn jetzt, in 2015.

Das Abendessen verlief normal, obwohl auch Max am Tisch saß, links von Maggie. Zu meiner Überraschung gab es als Nachtisch Himbeertorte, von der mir Elizabeth mit einem Zwinkern ein Stück auf meinen Teller legte.

„Ich weiß doch, dass das deine Lieblingsspeise ist", meinte sie mit einem Lächeln.

Verblüfft genoss ich auch den letzten Gang des wirklich super leckeren Essens und wandte mich gesättigt und zufrieden meinem Tee zu. In dem Moment wunderte ich mich nicht mehr darüber, dass Elizabeth so viel über mich zu wissen schien, obwohl ich sie kaum kannte.

Elizabeth und Maggie hatten gerade ein Gespräch über die Ländereien von „Hawthorne Manor", wie dieser alte Landsitz anscheinend hieß, angefangen.

„Max, du musst Belle auf jeden Fall den See zeigen", äußerte Maggie sich aufgeregt.

Ich spitzte meine Ohren. Wenn es um Wasser ging, schlug mein Herz höher.

Schon mit drei Jahren hatte ich schwimmen können. Als ich noch im Kinderwagen gesessen hatte, war meine Mutter mit mir schon regelmäßig in das örtliche Freibad gegangen.

Seit zehn Jahren schwamm ich im Verein und letztes Jahr hatte ich mit Turmspringen angefangen. Selbst nach meinem Umzug nach London hatte ich weitergemacht, in einem neuen Verein.

Max murrte ein „Warum nicht". Er konnte auch irgendwie nicht freundlich sein.

„Wie dem auch sei", versuchte Elizabeth die lockere Stimmung zu retten, „Hawthorne hat so einiges zu bieten. Du weißt vielleicht, dass Hawthorne mein Mädchenname ist. Und eigentlich wäre es auch deiner. Nicht nur deine Mum ist hier aufgewachsen, ich bin es auch. Und Max auch", fügte sie mit einem Seitenblick hinzu. „Er gehört praktisch zur Familie." Dabei schaute sie ihn durchdringend an.

Ähm, ok. Was verschwiegen die hier alle?

„Liz, ich gehöre seit zwanzig Jahren zur Familie", sagte er mit einer unangenehmen Stimme. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Offensichtlich lag hier das Konfliktpotenzial. Wie ich vermutet hatte. Mit einem unangenehmen Bauchgefühl knetete ich meine Finger.

„Wer möchte noch Torte?", beeilte sich Maggie zu sagen.

„Danke." Max schüttelte den Kopf, stand auf und verließ den Saal. Die Tür knallte laut hinter ihm zu.

Ich zuckte überrascht zusammen und starrte auf meinen mit Torte überladenen Teller.

Für eine kurze Ewigkeit herrschte tödliches Schweigen. Die ausgelassene Stimmung war ruiniert.

Dann ergriff Elizabeth das Wort.

„Ich bin sicher, Belle, dass dich nach der langen Fahrt an so einem erschreckend heißen Tag ein kühles Bad erfreuen würde. Ich zeige dir gleich dein Zimmer, es liegt in der ersten Etage. Handtücher sind im Bad, um alles Weitere kümmert sich Maggie."

Max' komisches Verhalten ignorierte sie komplett.

Wir standen auf. Ich verließ hinter Elizabeth den Speisesaal, Maggie räumte ab. Sie schien eine Art Haushälterin oder Mädchen für alles zu sein, wirkte aber trotzdem wie ein Familienmitglied, eine nette Tante, die zurück zu ihrer alt gewordenen Mutter gezogen war. Als ich realisierte, dass ich Maggie mit dem verglich, was meine Mutter sein könnte, stoppte ich den Gedankengang. Es hatte keinen Zweck, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen, das war das, was Mum mir immer erzählt hatte, wenn ich nach meinem Vater oder meiner sonstigen Familie gefragt hatte.

Elizabeth und ich wanderten durch sich windende, endlose Flure. Langsam hatte ich mich an die staubige, kühle Luft und den gelblichen Schein der Lampen, die immer paarweise auf kunstvoll verschlungenen Eisenstangen saßen, gewöhnt.

Ich wurde müde, als wir schließlich an der großen Treppe ankamen.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now