Kapitel 9

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"Du bist voll zu spät!", wurde sie von Ranpo angepflaumt. Aus seinen geschlossenen Augen sah er sie an, mit den Händen in die Hüfte gestemmt. Er hatte einen strengen Blick drauf, den sie nicht sehr ernst nehmen konnte.
"Du hättest dir genauso gut frei nehmen können!"
Ein Blick auf die Uhr bestätigte seine Worte. Es war bereits Mittag und ihres Schicht ging nicht einmal mehr vier Stunden.
"Wie erklärst du das?"
Er gab ein seltsames Bild ab, so ernst wie er in diesem Moment war. Sonst war sie es, die ihm etwas vorwarf, oder sich aufregte.
"Ich bin in der Bahn eingeschlafen. Als ich aufgewacht war, ist der Zug bereits am Anfang der Strecke gewesen. Der fährt ja im Kreis."
"Das ist keine Entschuldigung! Deinetwegen bin ich viel zu spät dran. Wir haben einen neuen Fall!" Noch ganz müde rieb sie sich über die Augen. Sie war immer noch nicht ganz wach.
"Moment mal. Du hättest jemand anderen fragen können, ob er dich begleitet. Kenji sitzt doch dort, oder Atsushi. Der hat doch gerade selbst nichts zu tun. Wo ist es meine Schuld? Es gab genug Auswahl", gähnte sie und ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen, von dem sie sofort runter geschmissen wurde. "Was soll denn das? Ich schlafe doch noch fast!"
Brummend brachte sie sich in eine sitzende Position und blickte zu dem Detektiv auf. Eine seltsame dunkle Ausstrahlung umgab ihn, als er sich vor ihr aufbaute.
Er nahm seine Brille und setzte sie auf.
Mit seinen grünen Augen musterte er sie. "Du solltest nächtliche Aktivitäten auf freie Tage verschieben. Nichts ist wichtiger als der Job!" Sie verzog das Gesicht und sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. "Sag sowas nicht leichtfertig. Du weißt doch gar nicht, was los war!" Er schnaubte und zeigte mit dem Finger auf sie, vielmehr auf ihr Haar. Er begann, sie zu deduzieren.
"Du bist noch ganz zerzaust und geschminkt bist du auch nicht."
"Ich habe in der Bahn geschlafen. Wie soll ich da sonst aussehen? Und außerdem..." Mit ihrer linken Hand hielt sie sich, an der Kante des Schreibtisches, fest und zog sich an diesem wieder auf die Beine.
"Ich schminke mich immer erst hier. Das merkst du bloß nicht, weil du selbst immer unpünktlich bist! Also halte dich zurück." Ganz entspannt setzte sie sich wieder auf den Stuhl und wurde fast zum zweiten Mal runter gestoßen.

Kunikida ging dazwischen.
"Streiten könnt ihr später. Geht endlich arbeiten!", schrie er und hielt sein Notizbuch in die Höhe. "Euer Benehmen beschmutzt die Ehre des Büros! Ihr seid schon zwei Stunden zu spät. Geht, bevor wir den Fall umsonst annehmen müssen!" Die beiden rissen sich zusammen, zumindest bis sie in der Bahn saßen und auf dem Weg in den Bezirk Kohoku-ku waren.

"Was hast du in der Nacht gemacht, dass du auf dem Weg zur Arbeit einschläfst?", fragte Ranpo nach einigen Minuten des Schweigens. Mit seinen leuchtenden Augen erkundete er die Gegend, die er, durch das Fenster, sehen konnte.
"Ich überlege umzuziehen. Es ist mir einfach zu nervig, mit der Bahn. Aber ich habe keine Wohnung gefunden, die mir gefällt. Außerdem arbeite ich an meiner Fähigkeit. Ich weiß, dass sie nützlich werden kann." Neugierig wandte er den Kopf um. Er wirkte nicht mehr so angespannt. Bis jetzt hatte sie ihre Fähigkeit ja auch noch nie zur Sprache gebracht oder ihm überhaupt richtig vorgeführt.
"Zeig mal!"
Sie setzte sich gerade hin und sah Ranpo unschlüssig an.
"Gib mir einen Anreiz. Mein Gehirn ist noch zu müde, um mir selbst etwas vorzustellen."
"Wie wäre es mit mir? Eine bessere Inspiration findest du nicht!"
Wenn er meinte.
>>Ob er mein Notizbuch gelesen hat? <<

Ranpo sollte nicht wissen, dass sie ihn schon öfters kopierte. Sie musste an den Moment denken, als sie ihr Buch mit Kunikidas vertauscht hatte. Auch er musste darin gelesen haben, so wie er ausgesehen hat. In ihrem Notizbuch hatte sie jede Menge über ihre Kollegen notiert. Kunikida musste nun schreckliches von ihr denken. Das sie eine Stalkerin war. Eine Verrückte!
Ranpo schnippte vor ihrem Gesicht herum, als sie nicht reagierte. Erschrocken sah sie ihn an. Gekonnt hatte er sie aus ihrem Gedankenkarussel befreit.
"Ich soll also eine Kopie von dir erzeugen?", hakte sie unsicher nach und bekam ein zustimmendes Nicken von ihrem Gegenüber.
"Nagut. Aber lach nicht. Sowas fällt mir immer noch schwer."
Er zog die Brauen zusammen.
>>Immer noch? <<, dachte er und wartete ungeduldig darauf, was sie ihm präsentieren würde. Die Luft um sie herum begann zu flimmern und wurde in grünes Licht gehaucht.
Es glitzerte um sie herum.

Eine Version seiner selbst saß neben Doyle, ihm direkt gegenüber. Er sah genauso aus wie er. Ranpo riss erstaunt die Augen auf und streckte seine Hand nach der Illusion aus. Als er tatsächlich etwas berührte zog er seine Hand zurück.
"Solange keine Gewalt auf meine Trugbilder ausgeübt wird, sind diese eigenständige Wesen", erklärte sie ihm und musste schmunzeln.
"Kann er auch reden?"
"Wohl eher nicht. Ich tue mich noch schwer mit Geräuschen von Tieren. Eine richtige Stimme wäre wohl noch nicht drin. Aber ein Lachen vielleicht."
Der zweite Ranpo verfolgte das Gespräch mit interessierten Augen. Als Doyle ihm aber in die Seite piekte lachte er auf. Es war ein ganz anderes Lachen, als das was sie von Ranpo selbst kannte. Nicht so heiter und ehrlich. Es klang gekünstelt, wie bei einem Roboter.
"Gruselig...", murmelte sie und ließ die Gestalt verschwinden.
"Zur Ablenkung wäre das wirklich nützlich."
"Zum Zeitvertreib ist es auch nicht schlecht", murmelte sie und ließ bereits etwas neues entstehen. Auffordernd streckte sie ihre Hand aus.
"Allerdings gibt es auch Dinge, die ich wirklich erzeugen kann. Es sind nur kleine Sachen, aber...", sie zuckte mit den Schultern. Überrascht betrachtete Ranpo das blaue Bonbon in seiner Handfläche, das wie eine Kugel, gefüllt mit Wasser wirkte.
Zögernd nahm er die kleine blaue Kugel und steckte sich diese in den Mund. Dabei schloss er seine Augen und schob das Bonbon nachdenklich in seinem Mund herum. "Wirklich lecker!", sagte er lächelnd und lehnte sich, mit entspannt vor der Brust verschränkten Armen, zurück.

All I see is you (Bungou stray dogs FF Ranpo)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt