Kapitel 6

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„Wie kannst du nur lächeln, als wäre es selbstverständlich?“
Mit angezogenen Beinen saß sie auf einem der Bürostühle. Die Decke eng um ihren Körper geschlungen. Diese Decke wurde allmählich zu ihrem Beschützer. Eine kindische Geste, wie ihr klar wurde.
,,Ich sagte doch, wenn's für mich gut ist, ist alles gut."
Ranpo lehnte sich an den ihr gegenüberliegenden Schreibtisch und trank aus einer Flasche Ramune.
„Ich habe dir doch versprochen, dass du nicht sterben wirst. Nicht unter meiner Führung“, antwortete er fast poetisch. Sie schwieg. Ihr Blick wanderte über seinen Körper. Er war ein wenig gekrümmt, als ob er Schmerzen hätte. Unter seinem Umhang konnte sie einen Verband am Handgelenk erkennen.
„Ranpo du...“, begann sie, brach aber ab, als sie sein unschuldiges Lächeln sah. Sie schloss die Augen und lächelte schwach. „Danke, dass du dein Versprechen gehalten hast.“
„Na hör Mal! Was wäre aus der Detektei geworden, wenn du vor unseren Augen gestorben wärst? Noch dazu als unsere Kundin.“
Seufzend zog sie sich die Decke über das Gesicht. Das hatte sie doch ein wenig verletzt. Es ging ihm nicht um ihr Leben, einer Unschuldigen, sondern um den Ruf der Firma, bei der er angestellt war. „Wie auch immer. Ich denke, du solltest nach Hause fahren und ein paar Dinge erledigen. Wir sehen uns morgen!“
Er verabschiedete sich von ihr und verschwand im Treppenhaus des Gebäudes.

Grummelnd hob sie den Kopf und sah auf die Uhr, die ihr verriet, dass sie fast den ganzen Tag verpasst hatte.
Es war bereits 18 Uhr.
Die Sonne ging schon langsam unter.
„Im Schlafanzug, wie lustig.“ Kopfschüttelnd befreite sie sich aus der Wolldecke, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie auf den Schreibtisch.
>>So kann ich nicht nach Hause gehen. Außerdem habe ich kein Geld dabei. Ob meine Kleider noch irgendwo sind?<<
Sie durchsuchte das Krankenzimmer und fand schließlich ihre Kleider in einer Tüte verpackt. An keiner Stelle war kein Tropfen Blut, wie sie unsicher feststellte, als sie ihr Oberteil vor sich hielt. Der Stoff war steif und roch unangenehm verdorben. Auch das war keine Option. „Was nun?“, fragte sie sich und setzte sich auf das Bett, das immer noch zerwühlt war von vorhin.
„Wie wäre es damit?“
Yosano war unbemerkt in ihren Gedankenstrom getreten und hielt ihr eine Papiertüte unter die Nase. Wie lange hatte sie schon so vor sich hin gestarrt? „Was ist das?“
Sie nahm ihrer neuen Kollegin die Tüte ab und warf einen Blick hinein.
„Das hat Ranpo für dich dagelassen. Du kannst natürlich auch in deinen Sachen nach Hause gehen, das ist deine Entscheidung.“
Achselzuckend hob sie die Hände und ließ die beiden allein, ohne dass Doyle die Möglichkeit hatte, weiter nachzufragen.
>>Er hat doch gesagt, wir sehen uns morgen?<<
Lächelnd zog sie sich um. Auch wenn die Sachen etwas zu groß waren, war sie froh, nach Hause zu kommen, ohne auszusehen, als wäre sie auf der Schlachtbank gewesen, was ja auch irgendwie stimmte, aber ein schönes Bild gab sie mit ihren blutverschmierten Kleidern trotzdem nicht ab.

___Am nächsten Tag:___

Ziellos saß sie als Erste im Büro. Niemand hatte ihr gesagt, wann genau sie kommen sollte. Natürlich war der Chef schon da und auch Haruno, aber die anderen würden wohl noch auf sich warten lassen. Lustlos drehte sie sich auf ihrem Stuhl hin und her. Sie wusste wirklich nicht, was ihre Aufgabe war. Ranpo war auch noch nicht da.
Abrupt stoppte sie in ihrem Wirbel und sprang auf, als hätte sie sich nicht eben noch wie eine Verrückte auf dem Stuhl gedreht.
Es würde wohl noch mindestens eine Stunde dauern, bis die nächsten eintreffen würden.
Die Zeit konnte sie gut nutzen, um ihre Fähigkeiten zu testen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass niemand mit ihr im Raum war.
Sie hob ihre rechte Hand, die Handfläche nach oben gedreht und angewinkelt. Die Fingerspitzen zeigten auf ihren linken Oberarm. Konzentriert schloss sie die Augen und stellte sich vor, was sie in diesem Moment fühlte, um es zu manifestieren. Eine Kugel, kaum kleiner als der Raum zwischen zwei zu Schalen geformten Handflächen, entstand.
Sie schimmerte schwarz. Als sie durch sie hindurchsah, erkannte sie feine Risse. Sie war gespalten, das bedeutete diese Kugel. Sie erschien Jedesmal.
„Kenne ich nur dieses eine Gefühl?“
Sie öffnete die Hände und ließ die Kugel zu Boden fallen. Glitzernde Splitter flogen durch die Luft und verschwanden, als sie den Boden berührten.
„Vielleicht...“, murmelte sie und ließ nachdenklich einen Finger in der Luft kreisen, der sich auf der Höhe ihres Gesichts befand.
Die Illusion eines Kois folgte ihrem Finger, wohin sie ihn auch führte. „Ehrgeiz. Dafür stehen Kois.“
Als sie ihren Blick schweifen ließ, sah sie Ranpo, der neugierig ihr Schauspiel beobachtete.
„Versuchst du etwas Bestimmtes?“
„Eigentlich nicht. Ich wollte mir nur die Zeit vertreiben“, antwortete sie und folgte mit ihren Augen wieder dem langsam wachsenden Koi.
„Danke übrigens für gestern. Damit hatte ich nicht gerechnet.“
Durch das Fenster konnte sie sehen, wie er den Kopf schüttelte. Er nahm seine Mütze ab und entblößte wirres Haar, das ihm wirr vom Kopf stand.
„Was für ein schlechtes Bild von einem Mann würde ich abgeben, wenn ich dich in diesem Aufzug gehen ließe?“
„Wahrscheinlich kein gutes ...“, antwortete sie lächelnd und beobachtete, wie die Sonne über der Skyline von Yokohama höher und höher stieg. Es wurde wärmer und wärmer.
„Wie funktioniert eigentlich deine Fähigkeit, Ranpo?“
"Wie wär's, wenn du es mit eigenen Augen siehst? Ich habe einen Anruf bekommen. Es gibt einen neuen Auftrag, deshalb bin ich so früh hier.“
Neugierig sah sie ihn an. Ihre Illusion verschwand.
„Das ging aber schnell!“

All I see is you (Bungou stray dogs FF Ranpo)Where stories live. Discover now