38

2.2K 150 209
                                    

Ace

Einen Monat später

Unschlüssig bleibe ich vor dem schwarzen Eisentor stehen, welches bedrohlich in die Höhe ragt. Die schwarze Farbe ist abgeblättert und zum Teil rostig, spitze Metallstäbe zerstechen die Luft förmlich. Große Rosenranken wuchern in die Höhe und umschlingen das Tor. Die Rosenblätter sind schon abgefallen, immerhin haben wir Winter, doch die Dornen sind wie Warnsignale und werden von dem milden Licht der Sonne, die hinter einer dünnen Wolkendecke versteckt ist, beschienen.

Ich hätte den Anblick genießen können. Mit Paige.

Calebs Autoschlüssel wiegen schwer in meiner Hand, den schwarzen Ford Focus habe ich ein paar Meter entfernt geparkt. Er weiß gar nicht, dass ich ihm den Wagen geklaut habe. Wobei, geklaut ist so ein negativ besetzter Begriff... Ausgeliehen trifft es viel besser.

Und selbst wenn, was will er denn schon dagegen machen? Mich anschreien? Soll er doch, dann kann er sich der fiesen, kleinen Stimme in meinem Kopf anschließen, die mir ständig Vorwürfe entgegenschleudert. Ich atme tief ein und aus. Ein Monat ist vergangen und irgendwie fühle ich mich auch schlecht, dass ich so lange gewartet habe. Insgesamt gibt es vier Trauerphasen.

In der Ersten will man es nicht wahrhaben, man ist geschockt und hofft die ganze Zeit auf ein Wunder, das sowieso niemals eintreten wird.

Diese Phase nennt sich Nicht-Wahr-Haben-Wollen.

In der Zweiten hat man sehr viel zu kämpfen. Man wird von Schuldgefühlen geplagt, macht sich oder betroffenen Person Vorwürfe und bekommt Aggressionen oder wird plötzlich von Emotionen überrollt.

Diese Phase nennt sich Aufbrechende Emotionen.

In der dritten Phase sucht man Orte auf, die einen mit der Person verbinden. Man lässt Geschehnisse Revue passieren und führt stille Zwiegespräche mit der Verstorbenen Person.

Diese Phase nennt sich Suchen-und-sich-trennen.

In der letzten Phase stellt sich allmählich innerer Frieden ein. Der Schmerz tritt in den Hintergrund. Man hat den Tod akzeptiert und kann nun beginnen, neue Pläne zu schmieden und sein Leben ohne den Verstorbenen zu gestalten. Die Erinnerung bleibt jedoch ein wichtiger Teil davon.

Diese Phase nennt sich Neuer Selbst und- Weltbezug.

Und ich stecke irgendwo zwischen der ersten und zweiten Phase fest. Ich habe mir alle möglichen Ratgeber durchgelesen, Caleb hat mir tausende Artikel über Trauerbewältigung vorgelesen und mir sogar angeboten, zu einem Therapeuten zu gehen. Als wenn das etwas bringen würde.

Ich kann nicht einmal mir gegenüber in Worte fassen, was ich gerade fühle, wie soll ich das bitte einer fremden Person gegenüber schaffen? Ich weiß nicht einmal was ich denke. Außerdem war ich nie jemand, der einen großen Hehl aus seinem Schmerz macht. War ich nie und werde ich vermutlich nie sein. Ich mache solche Dinger immer mit mir selber aus.

Und klar, man zerbricht, logisch. Aber insgeheim hoffe ich, dass ich mich an den Scherben schneide und der Schmerz die Strafe meines Versagens wird. Denn ich habe versagt. Ich habe Paige gesagt, dass ich sie liebe und, als sie mich vermutlich am meisten gebraucht hat, als sie innerlich zerrissen war, habe ich ihre Schwäche ausgenutzt und ihr einen Dolch mitten ins Herz gerammt.

Und gleichzeitig habe ich mir selber einen Dolch ins Herz gerammt. Nur lebe ich noch weiter. Aber gleichzeitig habe ich es auch nicht anders verdient. Auf der einen Seite hoffe ich, dass Paige wiederkommt. Dass sie einfach vor mir steht, mich anlacht und mich fragt, wie ich so dumm sein konnte und ernsthaft glauben konnte, dass sie sich so einfach niedermetzeln lässt.

I LIE TO YOUWhere stories live. Discover now