Letzter Atemzug

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... Acht Jahre zuvor ...

Ein lauter Schrei. Ich schrecke hoch.

Das Fenster ist offen, der Mond strahlt durch die Gardinen, eine leichte Brise weht durch mein Zimmer, nach den Rosen aus dem Garten duftend. Die elfenbeinfarbenen Vorhänge wiegen sich im Wind.

Und doch entgehen mir die Schatten nicht. Sie hängen in der Luft; unheilvoll.

Die Kuscheltiere stehen noch immer auf dem Regal, das Prinzessinnenbuch aus dem Mummy mir abends vorgelesen hat, liegt noch immer neben meinem Bett. Doch ich höre den schnellen Gang meiner Mutter auf dem Flur, nur wenige Sekunden später reißt sie die Tür auf.

»Schatz, wir müssen verschwinden.«

Ich sitze noch immer im Bett und schaue sie mit großen Augen an, meinen Lieblingsbären fest umklammert. Sein Fell ist schon ruppig, das eine Ohr ist angekaut, aber ich habe ihn schon seit meiner Geburt.

»Steh bitte auf... Es ist dringend.«

»Mummy...-«

»Schatz, komm jetzt! Wir müssen hier weg, bald wird alles gut und ich erkläre dir alles.«

Sie greift nach meinem Arm und zieht mich aus dem Bett. Gemeinsam laufen wir barfuß die Treppe hinunter, in die große Eingangshalle. Unsere Füße tippeln leise auf den Marmorfliesen.

Sie tippeln eine Melodie.

Ein Lied.

Das Lied des Todes.

Die saftig grünen Topfpflanzen, hinter denen ich mich gerne versteckt habe, sind umgeknickt, die Keramiktöpfe in tausende Scherben zersprungen.

Alles ist völlig verwüstet.

Der gläserne Kronleuchter liegt zerbrochen auf dem schweren bordeauxroten Brokatteppich, die Splitter funkeln wie Sterne auf dem mitternachtschwarzen Boden.

»Mummy?«

Meine Beine zittern. Daddy kommt auf uns zugelaufen, hinter ihm sein Beschützer mit seiner Frau und seinem Sohn. Ich suche seinen Blick, verängstigt klammert er sich an seine Mutter, in seinen smaragdgrünen Augen steht dieselbe Angst geschrieben, wie in Mummys und Daddys. Seine Mutter schluchzt leise.

»Wo sind deine anderen Männer? Ist nur Jameson hier?«, fragt Mummy.

Keine Antwort.

Plötzlich zersplittern die großen Fenster und schwarz gekleidete Personen stürmen das Wohnzimmer. Ein markerschütternder Schrei entweicht meiner Kehle. Instinktiv ducke ich mich. Mummy zieht mich wieder hoch. Dad brüllt etwas, laut und wutverzehrend. Dann stößt er bösartige Flüche aus und rennt auf eine Kommode zu. Er wühlt in ihr rum, Mummy packt mich und zerrt mich weiter.

Auf einmal fällt ein Schuss. Er ist ohrenbetäubend, laut, alles verzehrend. Und die anhaltende Stille danach ist noch viel lauter. Ich kann noch schreien, da wirft Mummy sich auf mich und zieht mich nach unten. Das Bild reißt ab, meine Sicht kippt. Ihr Körper sackt auf mir zusammen und heißes Blut tropft aus der Wunde in ihrer Brust.

Rotes Blut.

Ein Tropfen für jede schwindende Minute ihres Lebens. »Schätzchen«, flüstert sie, ich robbe mich auf dem Boden zu ihr. Ich bette mein Gesicht in ihre Hand. »Merk dir eins: Mit mir stirbt dein Frieden.«

Was?

Aber ...

»Aber du, meine kleine Kämpferin, du wirst unsere Welt aus ihren Angeln heben.«

Es ist ein reines Gemetzel, laute Schreie und Blut. So unglaublich viel Blut. Es könnte den ausgedörrten See meiner zukünftig ungeweinten Tränen füllen. Doch ich nehme nur sie wahr, meine Mutter, meine heilige, meine Richterin, meine Welt: Wie sie nach Luft schnappt, keine bekommt, das Leben Stück für Stück aus ihrem verletzten Körper weicht. Ihr drosselnder Atem versiegt, ihr Herz bleibt still.

Die leblosen bernsteinfarbenen Augen, die einst gefunkelt haben, das aschfahle Gesicht, dass ich einst so geliebt habe, welches voller Lebensfreude war.

Sie ist tot.

Das ist der Moment, in dem sich ein Teil von mir grundsätzlich veränderte. Die Welt ist nicht so hell und hoffnungsvoll, wie Mummy es war. Sie ist dunkel und rücksichtslos. Also würde ich mich anpassen.

Mummy war mein Licht, am Ende eines dunklen Tunnels. Nur ist sie erloschen, also musste ich mein eigenes sein. Nach diesem Tag spielte nichts mehr eine Rolle. Mein Leben wurde zu einer einzigen Flucht. Vor einer düsteren Gefahr und vor der noch viel düsteren Dunkelheit, die sich daraufhin in mir auftat.

Anfangs war es ein kleiner Riss in meiner Seele.

Aber mit jedem Atemzug, den ich tat, wurde dieser Riss größer, wurde zu einer Schlucht die mich selbst spaltete. Ich begann tief im Inneren zu rennen, mich zu verstecken ... Vor mir selbst. Vor meiner Vergangenheit. Vor was auch immer ich einst war.

Irgendwann kann man nicht mehr rennen, irgendwann gehen einem die Verstecke aus.

Sie ist tot.

Das ist das letzte, woran ich denken kann. Sie ist tot, mit ihr starb mein Frieden. Und eine Zeit voller Lügen, Selbstverleugnung und Hass begann.

Eine neue Ära brach an, finstere Momente lagen vor mir. Ich würde daran zerbrechen und mich eigenständig wieder zusammenflicken müssen. Doch ich verspreche mir in dieser Nacht hoch und heilig: Mummy, ich werde unsere Welt aus den Angeln heben, meine eigene, kleine Welt.

Und ich werde leben, für uns beide.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt