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Paige

Atemlos starre ich Ace an. Hat er gerade genickt? Ein paar Sekunden starre ich ihn perplex an. Er lächelt mir leicht zu, trotzdem sehe ich die Angst und den Schmerz in seinem Blick. Sofort fühle ich mich schlecht. Ich kann ihn doch nicht einfach dazu drängen! Zumal er fast nichts über mich weiß. Vielleicht habe ich versucht, ihm das meiste zu sagen, und sicherlich weiß er auch vieles, doch die wirklich wichtigen Dinge habe ich zurückgehalten.

Er weiß, dass Mom ermordet wurde. Nur nicht von wem. Er weiß, dass Dad wenig Zeit für mich hat und dass ich für ihn relativ unbedeutend bin. Nur nicht warum. Der dicke Kloß in meinem Hals wird immer größer, die Schuldgefühle nagen an mir. Er hat mich nie zu irgendwas gedrängt. Er hat mir immer Zeit gegeben, und was tue ich gerade?

Das genaue Gegenteil.

»Ace, du musst nicht... Wir müssen da nicht hin, wenn du es nicht willst. Ich will dich zu nichts drängen, ich weiß auch nicht, warum ich das gerade gesagt habe«, rudere ich sofort zurück. Ich schließe die Augen und atme frustriert aus. Flugs drehe ich den Kopf in seine Richtung.

Eine kühle Brise beruhigt mein Blut, das vor Aufregung und Scham und Wut in mir köchelt. Ich kann ihn im Moment nicht ansehen. Ace greift nach meiner Hand. »Paige...« Er haucht meinen Namen wie eine verdammte Liebkosung, der Kloß in meiner Kehle schwillt weiter an, bis er so groß ist, dass ich zu ersticken drohe.

Ich habe sein Vertrauen nicht verdient. Bald werde ich es brechen. Es ist so offensichtlich, alle Zeichen stehen dafür, dass Braxton und ich bald unsere sieben Sachen packen müssen, und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Und uns irgendwo in der weiten Welt verstecken. Wie immer. Und ich werde ihn hier zurücklassen. Und er wird mich hassen. Er wird nie die Wahrheit erfahren und wir werden uns vermutlich auch nie wiedersehen.

Tränen brennen mir heiß hinter den Augenlidern und ich versuche verzweifelt, sie wegzublinzeln. Ich will das alles hier nicht aufgeben. Ich will ihn nicht aufgeben. Endlich habe ich etwas gefunden, etwas Schönes, starkes, herzzerreißendes und schon bald muss ich es wieder verlassen. Ich kann hier nicht weg.

»Paige, ist alles okay bei dir?«, fragt er besorgt. Der Tonfall berührt etwa tief in meinem Inneren, seine Sorge um mich. Er wischt mir die Tränen weg.

»Ich habe Angst, dich zu enttäuschen«, gebe ich zu. Er lacht leise auf. »Und wie glaubst du, könntest du das jemals bewerkstelligen?«

Langsam und qualvoll hebe ich den Kopf und schaue in sein Augenpaar. In die unzähligen Blauschattierungen, vom angenehm warmen stahlblau eines sonnenbeschienen Sees im Sommer bis hin zum distanzierten Blau eines kühlen Wintermorgens. Er reißt mich in seine Arme, so verharren wir, bis er mein Kinn leicht anhebt. »Ich möchte dir diesem Ort zeigen. Ich verbinde vielleicht schlimme Erinnerungen damit, aber zusammen können wir einfach neue schaffen.«

Wir halten uns fest, er zittert leicht, fest umklammert und spüre die Ehrlichkeit seiner Worte. Sein Vertrauen in mich, seine Liebe geht so tief und trotz des Verrats, den ich bald begehen werde, schiebe ich alle diese Gedanken beiseite. Ich drücke meine Lippen an seine kühle Wange. Der Mond versteckt sich hinter den großen Bäumen, nur ein wenig Licht sickert durch die kahlen Äste und wirft silbrige Schatten.

»Lass uns losgehen. Es ist ein ziemlich weiter Weg«, sagt er und stößt einen langen Atemzug aus. Und was es für ein langer Weg ist. Bis zur Brooklyn Bridge sind es mehr als vier Meilen, zusammen gehen wir anderthalb Stunden. Wir laufen den Times Square entlang, beobachten die bunten Lichter und dem rauschenden Verkehr. Wir spazieren die belebten Straßen entlang, bis wir bei der Brücke halt machen.

Ace bleibt stehen. Ich nehme seine Hand. »Wir können auch umdrehen«, flüstere ich gegen den Wind. Langsam schüttelt Ace den Kopf.

»So feige bin ich nun auch wieder nicht. Wir haben es angefangen, beenden wir es auch.« Wir. Mein Herz legt einen Freudentanz hin. Gemeinsam stellen wir uns den Dämonen, die uns gegangen halten. Wir entsagen uns den Fesseln, zerdrücken die Gitter und brennen die Mauern nieder. Wir triumphieren.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt