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Paige

In meinem Traum falle ich durch eine schier endlose Dunkelheit.

Ich falle und falle.

Ist es überhaupt noch fallen, wenn es nie aufhört?

Es erscheint ein Gesicht, das altbekannte, dreckige Gesicht, dass ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Zumindest nicht in echt, nur in meinen Träumen. Lang verschollene Erinnerungen überkommen mich. Nein. Ich konzentriere mich wieder auf die Schwärze, die mich umgibt, versuche, das Gesicht zu verscheuchen. Ich bin stärker als das.

Ich sehe mich, mich, wie ich mich in meinem Traum zu einem See begebe. Zum See der tausend Lügen, um mich von meinen Sünden reinzuwaschen. Von meinem Lügen, meinen unzähligen Unwahrheiten.

Ich gehe den ersten Schritt ins Wasser - meine ausgedachten Identitäten verschwinden.

Ich gehe den zweiten Schritt ins Wasser - meine Lügen Ace, Lillian und allen anderen gegenüber verschwinden, lösen sich im Wasser auf und treiben davon.

Ich gehe den dritten Schritt ins Wasser - ich verschwinde. Eine Welle, hoch wie es sonst nur die Summierung meiner Lügen sein kann, baut sich vor mir auf, greift nach mir, verschlingt mich.

Etwas zerreißt die angenehme Stille. Ein schrecklich lautes, hohes Geräusch das klingt wie mein... Wecker. Mit einem erstickten Schrei wache ich auf. Ich bin schweißüberströmt, das Bettlaken klebt an mir, oder ich klebe an dem Bettlaken und meine Kehle ist staubtrocken. Tief atme ich ein und aus, versuche verzweifelt meinen Herzschlag zu kontrollieren. Meine Augen fühlen sich geschwollen an, mein Kissen ist tränennass. Wütend schmeiße ich es aus dem Bett auf die Schwarzweißfotografie an der Wand.

Ich schaue aus dem Fenster und betrachte die Sonne, die sich langsam über den Horizont schiebt und das Zimmer erhellt. Moment, wie spät ist es bitte?

07:47 AM.

Ich fluche laut und raffe mich auf. Ich laufe ins Badezimmer und atme zischend ein, als meine Füße die eiskalten Mamorfliesen berühren. Eigentlich sollte ich besser duschen. Aber ich bin spät dran. Wobei, zur ersten Vorlesung schaffe ich es sowieso nicht mehr, da kann ich auch kurz duschen. Also stelle ich mich unter die Dusche und lasse einen Schwall kochend heißes Wasser über mich laufen. Ich genieße das Gefühl, bis meine Haut krebsrot anläuft und der Spiegel beschlägt. Die Dampfschwaden hüllen mich ein, wie eine tröstliche Umarmung.

Rasch seife ich mich ein und steige wenig später wie neugeboren aus der Dusche. Neugeboren, schön wäre es. In ein flauschiges Handtuch gewickelt föhne ich mir die Haare, bis der Spiegel wieder klar wird und ich mich sehen kann. So viel zum Thema neugeboren...

Ich versuche gar nicht erst, meine Augenringe zu kaschieren, für wen denn auch? Sei es so, ich laufe halt rum wie ein zusammenschlagender Panda, ich muss mich ja nicht selber anschauen, die anderen leiden drunter, nicht ich. Beim roten Lippenstift zögere ich. Ich trage ihn immer. Wenn ich ihn nicht trage, ist es wie ein Eingeständnis dafür, dass es mir absolut nicht gut geht. Und das stimmt auch, aber es muss ja nicht gleich jeder erfahren. Also ziehe ich meine Lippen nach, wie ich es schon so oft getan habe. Blutrot.

Wenig später stehe ich vor meinem Kleiderschrank. Wahllos greife ich nach einem schwarzen Hoodie und einer schwarzen Jeans. Ich sehe jetzt zwar aus wie eine Leiche, blass und irgendwie leblos, die schwarze Kleidung betont es nur noch stärker, aber was soll's.

Kurz darauf stehe ich schon im Fahrstuhl und fahre in die Tiefgarage, zu meinem Auto. So muss ich mich wenigstens auf die Fahrbahn konzentrieren, und nicht auf irgendwas anderes. Meine Gedanken sind heute wie Gift für meine Psyche. Der Verkehr ist gut, ich stehe kaum im Stau, sogar die Ampeln sind ständig grün und schon nach einer viel zu kurzen Zeit stehe ich auf dem Schulparkplatz.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt