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Ace

Gelangweilt gehe ich durch den Flur der NYU. Die erste Vorlesung ist heute ausgefallen, keine Germanistik also, aber dank des seltsamerweise sehr guten Verkehrs, bin ich schon fünfzehn Minuten früher da. Paige und ich haben beschlossen, uns in der ersten Stunde in der Universitätsbibliothek zu treffen, also ist meine seltsame Laune völlig unbegründet.

Trotzdem. Ich bin heute mit einem sehr seltsamen Gefühl aufgewacht, und das habe ich sonst nie. Irgendwas ist komisch, es ist, als würde sich etwas zusammenbrauen. Wie eine dunkle Regenwolke, die nur darauf wartet, sich über mir zu ergießen oder noch besser - mich mit Blitzen zu grillen.

Wie gesagt, ich bin heute in einer sehr seltsamen Stimmung.

Wie ferngesteuert setze ich einen Fuß vor den anderen, auf den Weg zur Bibliothek. Ich hüte mich, meine Miene kühl und gelassen zu behalten, muss ja nicht jeder gleich wissen, wie es in mir aussieht. Mechanisch winke ich einigen Leuten zu oder ignoriere sie, je nachdem, ob mir der Anblick gefällt oder nicht. Der Anblick von Henry und Elian zum Beispiel gefällt mir, die beiden hetzen durch die Gänge, vermutlich sind sie wieder kurz davor, zu spät zu kommen, weil sie mit gewissen anderen Dingen beschäftigt.

Was im Umkehrschluss nur bedeutet, dass sie hinter der Turnhalle rumgeknutscht haben, und dabei völlig die Zeit vergessen haben. Wie so oft. Leise öffne ich die Tür der Bibliothek und betrete den sogar recht geräumigen Raum. Die massiven Eichenholzregale quillen nur so über vor Büchern und an den Fenstern stehen alte, aber noch recht gut erhaltene Sessel, die mit dunkelgrünem Samt überzogen wurden.

Der Boden ist noch aus Holz und knarzt bei jedem Schritt. Nur wenige Räume waren in einem so guten Zustand, dass sie vor Jahrzehnten nicht renoviert werden mussten. Die Bibliothek gehört zu einem dieser Räume, hier hat sich seit der Gründung der Universität nichts geändert.

Der gute Zustand hat vermutlich nur einen einzigen Grund, nämlich das niemand, wirklich absolut niemand in diese Bibliothek geht. Abgesehen vom Stuhl der Bibliothekarin hat sich hier absolut nichts verändert. Und wer Bücher braucht, kann diese über die digitale Bibliothek aufrufen, die auf der Website verlinkt ist.

Und trotzdem gibt es diese Bibliothek noch. Natürlich nur, damit die NYU behaupten kann, noch originale Räume aus dem letzten Jahrhundert zu haben. Vor allem am Tag der offenen Tür wird die Leitung nicht müde, dies noch einmal besonders hervorzuheben.

Hinter der Ausleitheke, die dringend mal wieder gewischt werden müsste, sitzt eine alte Bibliothekarin. Sie sieht ziemlich klein aus, was auch täuschen kann, und hat ihre kurzen weißen Haare ordentlich frisiert. Wobei, Haare kann man das nun wirklich nicht nennen, lediglich ein paar Strähnen hat sie noch auf dem Kopf. Sie hat Lachfältchen unter den Augen und ein sehr freundliches Gesicht.

Ihre dunkle Haut wird durch das gedimmte, orangene Licht betont. Ich würde sagen, dass sie aus einem lateinamerikanischen Land stammt. Sie sieht aus wie eine typische liebenswerte Großmutter. Sie hebt den Kopf und greift nach einer kleinen Brille, mustert mich streng mit großen, blauen Augen.

Dann tritt ein breites Lächeln auf ihr Gesicht und sie entblößt eine Reihe gelber Zähne, mit einigen Lücken. Ich muss augenblicklich an Gollum denken, denn so sieht sie gerade wirklich aus.

Jetzt fehlt nur noch, dass sie mit einer schaurigen Stimme zischt: »Wer das wohl sein mag, mein Schatz.«

Sofort verscheuche ich den Gedanken, das ist nur eine liebe Oma, die noch ein paar Jährchen zu ackern hat, ehe sie in Rente geht und der NYU zum Abschied den Mittelfinger zeigt.

»Ich weiß genau, warum du hier bist«, sagt sie und ihr beinahe zahnloses Grinsen wird noch breiter. Gollum, das muss Gollum sein. Gollum als Mensch.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt