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so oft sind wir uns
über den Weg gelaufen.
Stets habe ich mich gefragt
konnte das Zufall sein.

Paige

Dienstag ist jetzt offiziell mein absoluter Hass-Tag. Ein kurzer Blick auf den heutigen Kursplan hat ausgereicht, um mir den ganzen Tag zu verderben. So ziemlich jede Vorlesung klingt allein vom Titel furchtbar. Der einzige Lichtblick ist mein Praktikum bei Random House, aber auf das muss ich noch Stunden warten.

Mein Kopf schmerzt schon von der anstrengenden Stimme meiner Professorin. Und dabei ist das erst die erste Vorlesung! Sie klingt wie eine Hupe. Und sieht aus wie eine ältere Version von Harriet aus Wild Child aus.

Endlich beendet sie die Vorlesung und bricht somit den Fluch ihrer Stimme. Ich packe sofort ein, um so schnell wie möglich aus dem Saal zu kommen.

»Paige!«, ruft jemand. Ich drehe mich um. »Ja?«

»Ähm, also... Ich wollte fragen, ob wir nachher in der Mittagspause vielleicht zusammen essen wollen? Es wäre schön, hier eine Freundin zu finden«, fragt mich ein brünettes Mädchen schüchtern. In meinem Kopf drehen sich die Rädchen kurz, bis ich mich wieder an sie erinnere. Sie heißt Lillian, studiert ebenfalls an der NYU - sonst würde sie wohl kaum in meiner Vorlesung sitzen - und wir hatten gestern ziemlich viel Spaß. Dafür, dass wir uns nicht kennen und ich auch sonst nicht allzu viele Erfahrungen mit zwischenmenschlichen Beziehungen gesammelt habe.

»Klar, warum nicht? Ich habe jetzt noch eine Vorlesung, und du? Ich hol dich einfach ab.«

»Klingt gut, ich habe gleich in Saal 201 meine Vorlesung. Bis dann!«

Mit den Worten dreht sie sich um und huscht den Gang entlang. Lillian war eine der wenigen, die mir gestern nicht auf die Nerven gegangen ist. Sie wirkte gestern nett, schüchtern, intelligent und scheint wohl eher wenige Freunde zu haben. Sie ist unkompliziert und ein guter Gesprächspartner. Mit ihr könnte die Zeit an der NYU hoffentlich wesentlich angenehmer werden.

Ich war nie ein Freund von Mädchenfreundschaften. Das liegt vermutlich daran, dass ich den größten Teil alleine oder mit Männern verbracht habe. Wobei ich im Allgemeinen generell nie ein Fan von zwischenmenschlichen Interaktionen und zu starken Bindungen war. Man lernt aus der Vergangenheit.

Ich schlendere in meinen Vorlesungssaal und setze mich ganz hinten rechts in die Ecke. Von hier aus habe ich einen guten Blick nach draußen, auch wenn es nicht besonders viel zu sehen gibt.

Ich beobachte Vögel auf einem Ast, die um die Wette zwitschern. Die restliche Vorlesung über verharre ich mehr oder weniger in der gleichen Position, mit kleinen Abweichungen. Sprich: es ist so langweilig, dass sogar das Schauspiel der Vögel interessanter ist. Dabei bin ich nicht gerade der Fan von Naturbeobachtungen.

Das Ende kommt eine Erlösung gleich - ich frage mich ehrlich, ob ich nicht doch einfach von der Uni abgehe und mein Leben mit Schlafen verbringen möchte. Doch mir missfällt es, immer noch finanziell von meinem Vater abhängig zu sein.

Mein Lebensstil ist fernab von der Realität, besonders wenn ich in die ärmeren Gegenden New Yorks schaue. Wenn immer ich einem Bettler begegne, dessen Gedanken sich darum kreisen, auch welcher Parkbank er am besten schlafen möchte - schäme ich mich nahezu für den Wohlstand, mit dem ich aufgewachsen bin. Die soziale Gerechtigkeit ist alles andere als gerecht. Und während ich mir meinen Lebtag nicht einmal den kleinen Finger krumm machen müsste, kämpfen andere wiederum Tag ein Tag aus mit dem nackten Überleben.

In dem Moment, in dem ich hier sitze, verliert gerade jemand seinen Job.

Jemand anderes bekommt einen Job.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt