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Paige

Ich wische mir den Schweiß aus der Stirn und versuche, durch reine Willenskraft meinen Herzschlag zu beruhigen. Tief atme ich durch und werfe einen Blick hinter mich. Dieser Typ war ganz sicher einer von Dads Feinden, die uns auf die Schliche gekommen sind. Verdammt, es wird immer gefährlicher in New York. Das Unheil verfolgt mich auf Schritt und Tritt. Und Dad muss es wissen! Sonst hätte er schließlich keine weiteren Beschützer für mich angeheuert!

Meine Beine zittern vor Anstrengungen, doch ich schleppe mich dennoch wieder in Richtung Appartement. Es war so eine dumme Idee, Laufen zu gehen. Ich habe seit wer- weiß-wann nichts mehr gegessen, und das was ich gegessen habe, hat meinen Magen frühzeitig verlassen, als ich mir früh morgens die Seele aus dem Leib gekotzt und in die Kanalisation gespült habe.

Mein Bauch knurrt unerträglich, verlangt lautstark nach Essen. Außerdem tut er weh. Als hätte er sich verkrampft, was es auch nicht viel angenehmer macht. Schon gar nicht, wenn ich laufe Dennoch versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen und imitiere meinen sonst so sicheren Gang. Ich scheitere kläglich. Generell ist mein Leben in letzter Zeit sehr kläglich. Meine Existenz hat eindeutig schon bessere Stunden gesehen.

Die Sonne hat sich verkrochen, stattdessen türmen sich große, graue Wolken am Himmel. Hoffentlich regnet es nicht gleich. Ich verschwinde mit der Masse, lasse mich von dem Treiben der Großstadt mitreißen. Ein älterer Herr lockt Kunden mit Hot Dogs an, als wenn jemand schon zum Frühstück einen Hot Dog isst.

Mein Stand festigt sich und ich beginne wieder, schneller zu gehen. Laufen möchte ich trotzdem nicht. Und mein Magen rumort wieder, sogar eine junge Frau hört das Geräusch und wirft mir einen mitleidigen Blick zu. Unangenehm berührt gehe ich weiter. Der Wind frischt kurz auf, eine starke Böe zieht an meinem Pferdeschwanz und löst einige Strähnen, die mir nun ins Gesicht hängen.

Ich habe sowieso schon meinen halben Zopf im Gesicht, von daher macht es keinen großen Unterschied mehr. Nach schier endlosen Minuten biege ich endlich in unsere ruhige Straße. Wieder bemerke ich die schwarz gekleideten Männer, nur sind sie nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt.

Ich nicke ihnen zu und lächle leicht. Selbstverständlich erwidern sie die Geste nicht. Aber das ist auch nicht schlimm, allein ihre Anwesenheit ist tröstlich für mich. Sie vermitteln mir zumindest ein bisschen Sicherheit. Auch wenn es lächerlich ist, schließlich haben die Feinde meines Dads schon viel mehr Leute niedergemetzelt.

Trotzdem gebe ich mich dem naiven Gefühl der Sicherheit hin. Sie werden mich beschützen. Das weiß ich. Und Dad liegt doch etwas an mir. Es muss so sein. Er spürt die drohende Gefahr, er weiß Bescheid. Aber das bedeutet auch, dass ich Ace verlassen muss. Und vermutlich schon bald. Sehr bald. Genauso wie Lillian. Bei dem Gedanken spüre ich augenblicklich ein unangenehmes Ziehen in meinem Bauch, und das ist sicher nicht dem Hunger geschuldet. Sondern meiner Angst.

Es hat mir nie viel ausgemacht, von Stadt zu Stadt zu hüpfen, von Identität zu Identität. Dieses Mal schon. Paige Lopez ist mehr ich selbst, als ich es jemals war. Es liegt an den Menschen, die mich umgeben. An den Menschen, die mir Tag für Tag ans Herz wachsen.

Der Portier öffnet mir die Tür und nickt mir ebenfalls freundlich zu. Professionelle Distanz, Freundlichkeit, weil sie von ihnen erwartet wird. Sie können mich für ein verwöhntes Miststück halten, werden es mir aber niemals ins Gesicht sagen. Ich versuche, genauso freundlich zurückzulächeln, aber es fühlt sich unangenehm an, wie eine Maske, die nicht richtig sitzt. Sie ist verrutscht, gestern Nacht, als Brian an mir gezerrt hat und Erinnerungen wachrief, die ich mit aller Macht zurückhalten wollte.

Ich steige in den Fahrstuhl und gebe den Code mit zitternden Händen ein. Mir ist schlotterkalt, ich habe eine Gänsehaut am ganzen Körper. Warum muss denn bitte die Klimaanlage im Herbst an sein? Ich kann selber nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Es ist, als würden alle schlimmen Momente meines Lebens wieder hochkommen, als müsste ich sie wieder und wieder durchleben.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt