06

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ich sah dich
wieder und wieder
nein, das war kein Zufall
es war Schicksal

Ace

Josh lehnt an meinem Spind in der Umkleide und schaut mich abwartend an. »Wir haben jetzt Training«, sagt er. »Ich weiß, nur stehst du vor meinem Spind. Ich müsste meine Sporttasche mal rausholen.«

»Oh, sorry«, lacht er und macht Platz. Ich lache nur kurz auf und öffne den Spind. Sofort fällt die Tasche heraus und ich keuche überrascht auf. Mit einem dumpfen Geräusch landet sie auf dem Linoleumboden. Josh biegt sich vor Lachen und ich schaue ihn böse an. »Sorry, Mann, aber das war gerade echt zum Brüllen! Wie du dich erschrocken hast!« Er schlägt sich feixend auf den Oberschenkel. Ich seufze nur, vermutlich hat er sogar Recht. Ich habe bestimmt wirklich komisch ausgesehen.

»Ab jetzt, ich habe keine Lust, zu spät zu kommen.«

Josh folgt mir und wir gehen nebeneinander her, unterhaltend und witzelnd in Richtung Sporthalle. »Dieses Jahr fokussieren wir uns aufs Werfen, oder?«, fragt er.

»Ja, das hatten wir doch geklärt«

Unser Leichtathletik-Team an der NYU ist aufgeteilt; die eine Gruppe wirf, also Speerwurf, Diskuswurf und normaler Wurf. Die andere Gruppe läuft, Ausdauerlauf, Sprint, Hürdenlauf und freiwillig noch Weitsprung. Letztes Jahr waren wir in der Laufgruppe, aber Josh meint, dass ihm das nicht besonders liegt.

Also wechseln wir. Wobei Josh nur verärgert ist, dass er in Wurfdisziplinen unter die Top 3 kommt, aber in den Laufdisziplinen nicht. Für mich ist beides unwichtig, weil ich in keiner der Gruppen der Überflieger schlechthin bin. Eher oberes Mittelfeld, damit konnte ich mich aber auch schon immer arrangieren.

Wir gehen in die Umkleide, begrüßen die anderen Jungs und ziehen uns schnell um. Bis zum Herbst haben wir noch draußen Training, zum Glück, denn heute haben wir wirklich gutes Wetter. Es wäre eine totale Verschwendung, in der nach Käsefüßen stinkenden Halle zu trainieren.

Dazu kommt noch, dass man viele Wurfdisziplinen nicht in der Halle ausüben kann, sondern nur die Vorübungen. Ehrlich gesagt, ist das ziemlich nervig. Noch so ein Grund, warum ich lieber laufe.

Nachdem wir uns umgezogen haben, joggen wir auf die Laufbahn und heben grüßend die Hand, als wir Coach Chevelure sehen. Er nickt uns nur knapp zu, eisern, wie der Soldat einer Garde, die keinerlei Gnade zeigt.

Eigentlich ist er unter seinem harten Kern eine sehr fürsorgliche Person. Er will uns ermutigen und uns aufmuntern, um nach Höherem zu streben. Was bei mir vergebens ist, vor allem für Josh bin ich dem Team überhaupt beigetreten. Außerdem macht sich der Sport nicht schlecht in meinem Abschluss.

Coach Chevelure ist ein alter Mann, mit einem wahnsinnig trainierten Körper, der genauso starr wie sein Blick ist. Ich kann ihn mir gar nicht ohne Jogginghose und das einfache, weiße T-Shirt vorstellen. Oder ohne die Trillerpfeife, aber die nimmt er ganz bestimmt zumindest zum Schlafen ab.

Wobei, vielleicht auch doch nicht. Ich schmunzle bei dem Gedanken.

Prüfend betrachtet Josh die Mädchen, die ebenfalls nacheinander und in gruppierten Abständen herkommen. Ob das Absicht ist? Sein Gesicht hellt sich auf, als er Lillian sieht. Man könnte fast meinen, sein Gesicht wäre eine Lampe, die soeben angemacht wurde. Mein Lächeln wird breiter.

»Lillian studiert auch an der NYU?«, fragt er mich mit großen Augen.

»Anscheinend«, erwidere ich amüsiert.

Josh mag zwar ziemlich viel über seine Aufrisse erzählen, trotzdem weiß ich, dass er tief im Inneren ein anständiger Kerl ist. Und dass er schon seit der High School total verknallt in Lillian ist. Wie genau die beiden sich überhaupt kennengelernt haben, weiß ich nicht einmal, immerhin ist Lillian eine Jahrgangsstufe unter uns gewesen und somit hatten sie gar keine Kurse gewesen.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt