31

2K 142 320
                                    

Paige

Mein Atem geht stoßweise, trotzdem erhöhe ich das Tempo und laufe noch schneller. Dad kommt heute. Nach New York. Er besucht mich. Aber natürlich nicht meinetwegen, viel mehr soll besprochen werden, wie wir jetzt fortfahren. Der Abend mit Ace wurde gestern netterweise von Braxton unterbrochen, der mir befohlen hat, nach Hause zu gehen. Zwar habe ich gesagt, dass ich nirgends hingehe, schließlich bin ich nicht sein verdammtes Schoßhündchen.

Allerdings müssen schon viele Dinge zusammenkommen, damit Dad sich dazu herablässt, seiner Tochter einen Besuch abzustatten. Und so hat der Abend ein ziemlich abruptes Ende genommen. Ich bin natürlich in einem Affenzahntempo losgedüst, nur um zu erfahren, dass Dad erst am nächsten Tag kommt.

Aber es war selbstverständlich, dass er sich nicht die Gelegenheit am Schopf packt, und mein Treffen mit Ace sabotiert. Trotzdem war dies mit Abstand der schönste Abend in meinem Leben. Und vermutlich auch der letzte. Und den Gedanken daran habe ich heute Morgen nicht ertragen können, also bin ich klammheimlich aus dem Apartment geschlichen und laufen gegangen.

Die Sonne scheint und die Blätter leuchten in den schönsten Farben. Von goldgelb bist rotbraun ist jede erdenkliche Farbe vertreten. Das Laub klebt feucht am Boden, im verwilderten Teil des Central Parks wird nicht regelmäßig Laub gefegt.

Ich genieße die imperfekte Schönheit des Parks und kriege nach und nach den Kopf frei. Laufen hatte schon immer eine unendlich befreiende Wirkung auf mich. An meinen hellgrauen Laufschuhen klebt Dreck und einige Blätter, doch heute stört mich nicht einmal das. Meine Gedanken sind ganz woanders.

Mein Handy vibriert.

Braxton.

Ich hätte es nicht mitnehmen sollen, jetzt ruft er bestimmt die ganze Zeit an. Soll ich rangehen? Nein. Ich schalte das Handy aus und laufe weiter. Sofort fühle ich mich schlecht. Er sorgt sich vermutlich nur um mich, mittlerweile sogar zu Recht. Ich ziehe mir die Kapuze tief ins Gesicht, vielleicht hilft das ja ein bisschen. Wobei, ich bin nicht so arrogant, zu glauben, dass ich mich meinem Onkel entziehen könnte. Ich bin bereits in seine Falle getappt. Es ist nur noch eine Frage, wie hoch der Schaden sein wird.

Ich sollte wirklich nach Hause laufen. Kurz bleibe ich stehen und schnaufe erschöpft. Es war wohl nicht gerade die beste Idee, sofort meine ganze Energie zu verwenden, total kopflos. Wenn mich jetzt jemand verfolgen sollte, wäre ich ziemlich geliefert. Ich hebe das Gesicht zum Himmel. Die Sonne ist nun von dicken, grauen Wolken verschleiert. Mein Mut sinkt und macht der Reue Platz. Meine Kühnheit und vermutlich auch meine Arroganz ist wie weggeblasen. Ich hätte einfach im Haus bleiben sollen.

Ich hätte nicht so ein Risiko eingehen dürfen. Ein letztes Mal lasse ich den Blick über die kahlen Baumkronen schweifen, hinter ihnen recken sich die Hochhäuser Manhattans in die Höhe. Seufzend laufe ich weiter, dicht hinter einem schwarzhaarigen Mädchen, dass etwa in meinem Alter sein muss. Ungefähr einen Kilometer halte ich mich im Windschatten des Mädchens, dann biege ich rechts ab, um aus dem Park zu laufen.

Nur wenige Sekunden später ertönt ein ohrenbetäubender Schuss. Wie erstarrt bleibe ich stehen. Dann zuckt mein Blick zu dem Mädchen, das vor wenigen Sekunden noch lebendig vor mir gelaufen ist. Jetzt liegt sie am Boden, das Gesicht dreckverschmiert und ist umgeben von einer kleinen Anzahl Menschen, die panisch um sie herumwuseln. Ein roter Fleck breitet sich auf ihrer hellblauen Trainingsjacke aus.

Es macht Klick. Ich bin abgebogen, damit habe ich die Schussbahn freigemacht. Der Schuss sollte mir gelten. Mir wird schlecht und ich bin kurz davor, mich zu übergeben. Reiß dich zusammen. Leichter gesagt als getan, mein ganzer Körper erbebt und meine Füße knicken Weg. Stöhnend gehe ich zu Boden. Das ist der reinste Albtraum. Sie ist tot. Wegen mir. Dabei ist sie unschuldig.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt