Keuchend starrt sie mich an und nimmt sich auch den anderen Ohrstöpsel aus dem Ohr. »Was sollte das? Du hast mich zu Tode erschreckt!« Vorwurfsvoll schaut sie mich an, ihre Lippen sind leicht geöffnet.

»Wenn ich gewusst hätte, dass ich von dir angegriffen werde, hätte ich das ganz bestimmt nicht getan!«

Sie lacht. »Ich bin halt ein kleines bisschen schreckhaft.«

»Ein kleines bisschen?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Sie hätte mich fast um gemetzelt!

Sie setzt sich wieder hin und nickt ernst. »Naja, vielleicht nicht nur ein bisschen.«

»Warum hast du überhaupt so gute Reflexe? Ich hätte dir gerne zugesehen, wie du in das Regal krachst« Belustigt schaut Paige mir in die Augen. Ich stoße einen sehr tiefen Seufzer aus.

»Ich war früher in einem Fechtteam.«

Ihre Augen beginne zu leuchten. »Ui, echt? Ich finde sowas dermaßen heiß bei Jungs. Warum hast du aufgehört?«

Ich seufze wieder. »Ich habe mal jemanden verletzt. Schlimm verletzt.«

»Oh.«

»Ja.«

»Du willst vermutlich nicht darüber reden?«

Ich schüttle nur den Kopf.

Es ist schon ein Weilchen her, Henry und Elian wurden von Brian und Arion schikaniert, wie so oft. Arion und ich waren zusammen in diesem Fechtkurs. Und ich bin sauer geworden. Zu dem Zeitpunkt waren wir nicht mehr befreundet und bei einem Wettkampf habe ich ihn ziemlich übel verletzt, obwohl er schon verloren hatte.

Und das war aus der Sicht des Trainers unverzeihlich. Natürlich hat er mich verstanden, aber trotzdem verstößt es gegen sämtliche Moral, jemanden weiter zu bekämpfen, wenn dieser schon am Boden ist. Also musste ich austreten. Was nicht unbedingt schlimm ist, so bin ich ins Leichtathletik Team gekommen. Und Arion hat keine Anzeige erstattet, immerhin hat er sich das selber zuzuschreiben, dieser einfältige Mistkerl.

Aber ich möchte nicht unbedingt, dass Paige diese aggressive Seite an mir kennenlernt, diese wütende und unkontrollierbare. Zumindest nicht gleich am Anfang unserer... Beziehung?

»Hast du mal Kampfsport oder so gemacht?«, frage ich und setze mich auf einen Sessel neben ihr.

»Hm. Karate. Ist aber schon ein Weilchen her.«

»Echt?«, frage ich ehrlich erstaunt. »Und welchen Gürtel hast du? Den Schwarzen?«

Sie zieht eine Augenbraue hoch, leicht misstrauisch und belustigt, als würde sie hinterfragen, ob ich das gerade eben tatsächlich gesagt habe. »Klar. Definitiv« Allerdings trieft ihre Stimme vor Sarkasmus. Doch dann antwortet sie: »Also beim Karate gibt es ja zwei Untergruppen: Die Anfänger quasi, also Kyu und die Meistergrade, die sogenannten Dan. Da gibt es # noch jeweilige Abstufungen. Und nein, ich habe keinen Meistergrad, also keinen schwarzen Gürtel. Bei den Kyu-Stufen beginnst du mit dem 9. Kyu, das ist ein weißer Gürtel. Ich hatte die 3. Kyu Stufe, das ist ein brauner Gürtel.«

»Warum ist der braun?«

Paige streicht sich nachdenklich über ihr Kinn, wie ein alter Mann über seinen Bart und lehnt sich zurück in den Sessel. Ich lache und sie fällt mit ein. »Braun steht für einen Baum mit einer starken Borke. Es ist symbolisch und heißt vor allem, dass man ausgewachsen ist.«

»Naja. Ausgewachsen würde ich dich ja jetzt nicht bezeichnen.«

Sie schnappt nach Luft und gibt mir einen Klaps auf den Oberschenkel. »Sag mal! So redet man nicht mit einer Lady! Außerdem bin ich gar nicht so klein! Du bist nur ein riesiger Baum.«

»Tz. Eine wahre Lady kannst du nicht sein, eine Lady würde mich niemals als Baum bezeichnen.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Stimmt, ich bin keine Lady. Ich bin eine verdammte Königin!« Sie reckt das Kinn stolz in die Höhe und lächelt zufrieden. Dann tut sie so, als würde sie sich eine Krone auf ihr Haupt setzen und klatscht feierlich.

»Königin Paige, hat schon was, nicht?«

Ich schüttle nur lächelnd den Kopf. »Klar. Steht zu Diensten.«

Sie wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Ich habe sogar schon Untertanen.«

Ich seufze.

»Ja, und auch noch so unendlich viele. Ein Untertan, wow. Die Queen kann einpacken.«

Sie kichert leise. »Und da du dich meinem Willen zu beugen hast, befehle ich dir, mich heute Abend auszuführen.«

»An einem Montag? Wäre Freitag nicht besser?«

Sie presst die Lippen fest aufeinander und schüttelt mit dem Kopf. »Am Freitag kann ich nicht, Lillian und ich wollen einen Mädels-Abend zusammen verbringen. Du weißt schon, Film-Marathon, Champagner und Kirschlikör-Pralinen.«

»Aber sie geht doch mit Josh auf ein Konzert im Central Park? Bestimmt meinte sie nächsten Freitag.«

Paige schweigt ein paar Sekunden. »Habe ich Lillian gesagt? Ich meine... Eve. Das ist ein Mädchen aus meinen ... Vorlesungen.«

Sie lügt. Warum auch immer. »Was ist mit Samstag?«

Sie schüttelt heftig den Kopf. »Mein... Dad kommt«, sagt sie ausweichend. Nervös zupft sie an ihrem Zopfgummi. »Warum lügst du?«, frage ich schärfer als beabsichtigt. Sofort hält sie in ihrer Bewegung inne und hebt den Kopf. In ihren Augen glänzen Tränen und sie schnieft.

Oh nein, habe ich sie jetzt zum Weinen gebracht?

»Alles gut? Paige... Was ist los?«

Sie hickst und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Tapfer lächelt sie mich an ehe sie sagt: »Mir geht es gut. Es ist nur... Ich kann erstmal nur heute, weißt du?«

Ich nicke, auch wenn ich mir echt Mühe geben muss, um die tausenden Fragen zu unterdrücken.

»Ist schon okay... Denke ich. Josh wollte zwar irgendein dämliches Videospiel mit mir spielen, aber der kommt schon alleine klar. Oder er soll Lillian fragen.«

Paige lacht, auch wenn es nur abgestumpft und hohl klingt, wie ein Echo ihrer sonst so fröhlichen, glockenhellen Lache.

»Lillian spielt nur Just Dance oder Mario Kart.«

»Und jetzt stell dir bitte mal Josh vor, der zu Toxic von Britney Spears abgeht.«

Paige lacht laut bis die Bibliothekarin uns mit einem lauten »Shhh«, zum Schweigen bringt. Vermutlich ist sie gerade zu sehr mit diesem Christoph Grey - oder wie auch immer der Lappen heißt - beschäftigt und will auf gar keinen Fall unterbrochen werden.

Damit ist die angespannte Stimmung zumindest fort. Paige erholt sich langsam. »Also heute Abend? So um sechs?«

»Ich hole dich ab«, bestätige ich.

»Sehr gut. Allerdings muss ich jetzt los, ich habe versprochen, Lillian abzuholen, die hat jetzt gleich Nachhilfe mit irgendeinem Typen, der mit dem Stoff nicht hinterherkommt. Du weißt schon, wegen dem Josh Mal so eifersüchtig war.«

Stimmt, Josh echauffiert sich ständig über ihn, und darüber, dass er ihr viel zu anzügliche Blicke zuwirft und ständig sagt, dass die Chemie zwischen den beiden stimmt.

»Josh hat so einen Hass auf ihn, kaum vorstellbar. Dabei hat der sowieso keine Chance bei ihr.«

»Ganz genau. So, ich muss jetzt fliegen, sonst bringt Lillian mich noch um und das war's mit heute Abend.«

Sie rafft ihre Sachen zusammen und zieht mich zu einem (viel zu kurzen) Kuss zu ihr runter. Ehe ich ihn erwidern kann, hat sie sich schon von mir gelöst und saust aus der Bibliothek.

Die Tür fällt ins Schloss und vom vorderen Teil höre ich ein erschrockenes Keuchen. Die Bibliothekarin. Entweder hat sie sich wegen Paige erschrocken, oder der Film ist gerade besonders spannend. Aber so nah, wie sie am Bildschirm klebt, tippe ich auf Letzteres. Ich packe meine Sachen ebenfalls zusammen, kann aber nicht aufhören, an Paige zu denken.

I LIE TO YOUWhere stories live. Discover now