Ich räuspere mich und sage: »Ach ja, warum bin ich denn hier?«

Ein belustigtes Funkeln tritt in ihre großen wässrigen, blauen Augen. »Die Kleine sitzt hinter dem Regal da« Sie deutet auf ein monströses Regal, an dem ein Zettel steht, der die Kategorie angibt. Anscheinend versteckt Paige sich bei den Zeitungen.

»Seid nicht so laut ihr kleinen Zuckerschnuten, ja? Ich schaue gerade einen Film, also tun wir beide etwas verbotenes.«

Sie lacht ein gackerndes Lachen, fehlt nur noch, dass sie die Arme wie ein Vogel seine Flügel bewegt und aus dem Fenster fliegt.

Ich verkneife mir das Lachen, trotzdem muss ich grinsen. Vermutlich bestärkt sie das nur noch mehr darin, dass wir etwas vorhaben, das ganz klar gegen die Schulordnung verstößt.

»Was für einen Film schauen Sie denn?«, frage ich gespielt interessiert, um sie ein wenig abzulenken. Sie wird prompt rot. »Also wirklich! So etwa fragt man nicht, geh zu deiner kleinen Princesa.«

Ich kann mir wirklich auf die Schulter klopfen, nach vier Jahren spanisch weiß ich, dass Prinzessin auf Spanisch Princesa heißt. Was mich darauf schließen lässt, dass die Dame aus Spanien kommt, wer hätte es gedacht. Oder aus Argentinien. Ich gehe, ohne etwas zu erwidern, an ihrem Schreibtisch vorbei. Dabei streift mein Blick den Inhalt ihres Tisches. Ein geblümter Becher - unweigerlich muss ich an Carnelian denken, der hätte auch von ihr kommen können -, einige Unterlagen, ein potthässlicher Briefbeschwerer der die Form einer kackbraunen Katze hat, die mit einem Goldfisch spielt und einige DVDs.

Die Gute hat vermutlich noch nicht mitbekommen, dass es auch so etwas wie Streaming gibt, aber gut, man kann es ihr nicht verübeln, in dieser Bibliothek muss die Zeit auch stehen bleiben. Viel interessanter finde ich jedoch die Filmtitel. Zwar kann ich nur den sehen, der ganz oben liegt, allerdings sieht auch das schon nach einem netten Filmabend in einer Schulbibliothek aus. Fifty Shades of Grey, soso.

Anscheinend ist sie doch nicht so in der Zeit stehen geblieben, wie ich anfangs dachte. Vermutlich will sie nur nicht, dass jemand ihren Browser-Verlauf durchsucht und solche Filme findet. Schon gar nicht, wenn sie die während ihrer Arbeitszeit schaut. Egal, das geht mich alles gar nichts an. Soll sie doch schauen, was sie will.

Ich biege schon in den Gang mit Zeitungen, werfe ihr allerdings noch einen letzten neugierigen Blick zu. Mir stockt der Atem. Die alte Dame, bei der ich sofort an Gollum denken muss, trägt ernsthaft Airpods. Diese Frau ist einfach cooler als ich. Ich habe nämlich keine, ehrlich gesagt brauche ich die auch nicht, ich würde sie vermutlich nur verlieren, oder noch viel wahrscheinlich: Caleb würde sie mir, dreist wie er ist, einfach klauen.

Die Bibliothekarin zwinkert und widmet sich wieder dem Geschehen auf dem Computer. Ich wende mich ab und gehe auf Paige zu, die auf einem der Sessel sitzt und aus dem Fenster starrt. Sie hört Musik und ist anscheinend ziemlich in Gedanken versunken, sodass sie mich noch nicht bemerkt hat. Meine gute Laune kehrt sofort zurück, ich muss nur die Hälfte ihres Gesichtes sehen und sofort fühle ich mich, als würde ich auf Wolke sieben schweben.

Mann oh Mann, mich hat es echt erwischt. Gott sei Dank gibt es sowas wie Gedankenlesen nicht wirklich, sonst wäre ich echt am Arsch. Das wäre ziemlich peinlich für mich. In einem Hochgefühl beschließe ich, sie zu erschrecken. Leise schleiche ich mich an, packe sie mit einer Hand an der Schulter und mit der anderen ziehe ich ihr einen Stöpsel aus dem Ohr.

Dann brülle ihr ganz laut »BUH« ins Ohr. Sie stößt einen lauten, hysterischen Schrei aus. Mein Trommelfell platzt gleich, ganz bestimmt. Sie schlägt mir mit der einen Hand auf den Hals und tritt mich mit einem präzisen Roundhouse-Kick. Dank meiner schnellen Reflexe fange ich ihren Tritt ab, sodass ich nicht gegen das Bücherregal geschleudert werde.

I LIE TO YOUWhere stories live. Discover now