Und ich sehe ihn. Hinter einem Busch beobachtet er das Geschehen. Onkel Zachary. Das kann kein Zufall sein. Mit zitternden Knien stehe ich auf und entferne mich langsam von der Menge. Anfangs laufe ich noch in einem angenehmen Tempo, unauffällig eben, aber schon bald übernimmt die Panik die Kontrolle über meinen Körper und ich renne wie eine Irre auf der Flucht durch die Straßen.

Und ich bin ja auch auf der Flucht. Jede Zelle meines Körpers bebt vor Anstrengung, meine Kehle ist trocken und schreit nach Wasser, meine Lunge schmerzt und fordert nach einer Pause. Kalter Schweiß rinnt mir den Rücken herab.

Ein Mädchen ist wegen mir gestorben, nur weil es von hinten aussah wie ich. Tränen verschleiern mir die Sicht. Am liebsten würde ich auf einen Baum klettern und mich vor der Welt verstecken. Wie hoch ist der Preis? Wie hoch ist der Preis, wie viel zur Hölle ist Zachary bereit, zu zahlen? Für seinen Akt der Rache, seinen Showdown, seine Abrechnung.

Die Kapuze hat mich gerettet. Eine verdammte Kapuze hat mir gerade das Leben gerettet. Wie knapp ich gerade dem Tod entronnen bin. Ich biege in meine Straße ein, nur noch wenige Meter bis zur Wohnung. Ich bemerke den Blick der schwarz gekleideten Männer, die zu meiner Sicherheit da sind. Die hätten auch nicht viel ausrichten können, wenn man versucht, mich am helllichten Tag in einem öffentlichen Park zu erschießen.

Ächzend komme ich vor dem Apartmentgebäude an, der Portier öffnet eilig die Tür. Ich murmle nur noch ein leises »Danke«, ehe ich mich auf den Fahrstuhl zu schleppe. Erschöpft sinke ich auf die Knie und lege mein Gesicht in beide Hände. Es wird wirklich Zeit, zu verschwinden. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung.

Kurz darauf springt die Tür auf und ich rapple mich auf. Braxton stürzt auf mich zu, trotzdem bleibt er auf Distanz und hält einen kleinen Abstand.

»Weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe?! Wo zum Teufel warst du?!«

Ich steige aus. Kraftlos lasse ich mich auf die kalten Mamorfliesen fallen und versuche, meine Atmung zu regulieren. Ich schaue zur Decke auf. Die Lampen leuchten hell. »Ich war laufen.«

»Wieso bist du nicht an dein Scheiß Telefon gegangen? Ich konnte dich nicht mehr orten!«

Ich sage nichts. Vermutlich würde ich ihn nur noch mehr verärgern.

»Hast du mir denn gar nichts zu sagen?!«, schreit er zornig. Ich hebe den Blick. »Jemand... Jemand ist mir gefolgt... Ein Mädchen, das von hinten so aussah wie ich, wurde... wurde...« Meine Stimme bricht und heiße Tränen laufen mir die Wange hinab.

»Sie wurde einfach erschossen«, schluchze ich. Der Damm bricht und ich werde von meinem Tränen wortwörtlich überflutet. Ich halte es nicht mehr aus. Dieses ewige Versteckspiel, länger kann ich es nicht mitmachen. Ich ertrinke, wortwörtlich.

Braxton starrt mich nur schweigend an. »Scheiße. Paige ich ... Es tut mir leid. Dein Vater kommt gleich, dusch dich besser vorher. Tut mir leid, also ... Ach, was weiß ich. Ich würde dich gerne trösten aber du weißt selber, wie dein Vater so ist.«

Mit offenem Mund starre ich ihm hinterher. »Ist das dein Ernst?«, keuche ich erschrocken auf, doch er antwortet nicht. Entweder er hat mich einfach nicht gehört, oder er ignoriert mich eiskalt. Er lässt mich einfach alleine, während ich vor ihm zusammenbreche? Legt er es echt darauf an, dass ich ihn so richtig verabscheue?

Mit langsamen Schritten gehe ich schnurstracks in mein Zimmer und ziehe meine verschwitzten Trainingsklamotten aus, die ich in den Wäschebehälter werfe, welcher direkt mit der Waschküche verbunden ist.

Was zum Teufel geht hier vor sich?

Fröstelnd lege ich einen Arm um mich und steige ich in die Duschkabine. Ich schalte die Regendusche an, das Wasser ist kochend heiß und schon bald umgeben mich dichte Dampfwolken. Trotzdem lässt mein Zittern nicht nach. Ich hocke mich auf den Boden der Dusche, der aus dunkelroten Kacheln besteht, den Kopf an die Wand gelehnt.

I LIE TO YOUWhere stories live. Discover now