»Ace, wenn du das nicht kannst, ist das völlig okay«, sichere ich ihm ein weiteres Mal zu. Ein letztes Mal. Danach würde es kein Zurück mehr geben. Danach kann er nicht mehr umkehren, und das weiß er. Er spürt es. Genauso wie ich. Mit einer eleganten Bewegung zieht er mich an sich. »Du bist bei mir, also schaffe ich das.«

Er haucht mir einen sanften Kuss auf den Mund, ehe wir weitergehen. Die Sterne funkeln und die Hochhäuser verschmelzen immer mehr in dem klaren Nachthimmel. Ace atmet einmal tief ein und aus, gemeinsam gehen wir über die Brücke. Schnurstracks in eine Welt, die er am liebsten hinter sich lassen würde, für immer. Eine Zeit, in der er sich schwach, hilflos und hoffnungslos gefühlt hat.

»Es sind nur noch ein paar wenige Straßen.«

Ich drücke seine Hand ganz fest, vielleicht zerquetsche ich sie ihm auch. Vielleicht aber auch nicht, mein Händedruck ist nicht gerade der festeste. Nach einigen Minuten des betretenen Schweigens bleibt er stehen. Vor seinem persönlichen Albtraum, vor der Hölle auf Erden.

Jeder Mensch hat einen Albtraum. Und dieser Albtraum kann in unterschiedlicher Form auftreten. Bei mir ist es ein Mann. Der Auslöser dafür liegt in der Vergangenheit und auch in meiner DNA vergraben. Bei Ace ist es dieses Gebäude. Und der Auslöser liegt in seinem Kopf.

»Wir sind da.« Er klingt gequält, als könne er den Anblick des Hauses nicht ertragen. Ich bewundere ihn für den Mut, den er aufgebraucht hat, um mich hierher zu bringen. Neugierig hebe ich den Blick, lasse die Präsenz dieses Ortes auf mich einwirken. Das Gebäude ist aus kaltem Stein, das ehemalige Geschäft sieht verwahrlost aus. Hier war eindeutig seit langen niemand.

Die Fenster sind eingeschlagen, der milchige Schein der Laternen leuchtet schwach in das Innere. Ace versteift sich neben mir. In einem Fenster sehe ich sie. Die Theke. Aus Holz, sogar noch mit einer goldenen, wenn auch schmutzigen Klingel. Hocker sind umgestoßen, das Holz verschiedener Regale liegt zersplittert auf dem Boden. Schmutziges Laub wurde durch das klaffende Loch der Scheibe reingeweht, die Glassplitter funkeln im Schein des Mondes wie kleine Brillanten.

Die Tür hinter der Theke ist unberührt. »Diese Tür hat in eine völlig neue Welt geführt.« Seine Stimme klingt brüchig, als würde er die Last vieler auf ihn stürmende Erinnerungen unterdrücken. Das Tor zu seiner Vergangenheit, so unglaublich nahe. Und trotzdem liegt ein ganzes Leben dazwischen.

Ich wünsche, ich könnte ihm helfen. Aber das kann ich nicht. Den Schmerz muss man selber überwältigen. Jeder muss für sich selbst den Schritt gehen, den Teil hinter sich zu lassen. Jeder muss für sich selber entscheiden, die eigene Schwäche zu vergeben. Vielleicht hätte Ace es schon längst tun müssen.

Oder vielleicht habe ich Wunden neu aufgerissen, die noch gar nicht verheilt waren. Im zweiten Fenster klebt ein großes Plakat einer Immobilienfirma. Mit großen, scharlachroten Buchstaben steht dort: Zum Verkauf. Und darunter eine Telefonnummer.

Mich wundert es allerdings nicht. Niemand möchte ein Geschäft auf einem solch verschmutzen Boden aufbauen. An einem Ort, an dem noch immer die Geister der Vergangenheit rumspuken.

»Danke Ace. Das bedeutet mir so unendlich viel.«

Mit einem finsteren Blick betrachtet er den Laden, es flackert sein Blick zu mir und sein Ausdruck wird prompt weicher. Auf einmal scheint ein Damm zu brechen, er sackt in sich zusammen und schlägt die Hände vors Gesicht. »Ich... Ich habe gerade einfach ein totales Déjà-vu. Die Nächte, ich...«

Ich schlinge die Arme um ihn und streiche ihn über den Rücken, halte ihn ganz fest. »Alles wird gut...«, flüstere ich und streiche ihm sanft die weißblonden Haare aus dem Gesicht.

»Nichts ist gut. Ich bin anwidernd, Paige. Ich habe jemanden wie dich nicht verdient. Jemanden, der so vollkommen ist, so unglaublich.«

Und ich habe dich nicht verdient, denke ich bitter.

»Doch hast du. Ich bin keine Heilige, davon bin ich weiß Gott weit entfernt. Ace, schau mich an.« Er sieht mir in die Augen. Himmel, ich könnte im Anblick seiner Augen wirklich dahinschmelzen. Eine gefrorene Eislandschaft, die unter meiner Anwesenheit langsam auftaut. Ein Blick, der einzig allein für mich warm wird.

»Ich weiß wie du dich fühlst, Ace. Ich verstehe dich. Es ist alles gut, du musst es einfach akzeptieren. Du kannst nicht in der Gegenwart weiterleben, wenn du die Vergangenheit nicht hinter dir lässt. Du hast sie jahrelang zurückgedrängt, jetzt holt sie dich ein, und du stellst dich ihr jetzt. Es ist okay.«

Wenn ich meine eigenen Ratschläge nur besser annehmen würde. Ich bin diejenige, die sich ihr ganzes Leben versteckt. Aber es geht nicht um mich. Es geht um Ace und er braucht mich gerade. Und ich brauche ihn auch.

»Du hast recht«, stößt er aus. »Es ist okay.« Sein Blick findet meinen und ich wage es nicht, wegzuschauen. Er soll keinen Zweifel daran haben, dass ich für ihn da bin.

»Caleb hat mich manchmal besucht. Meine Tante ist immer ausgerastet, wenn er ohne Anmeldung kam. Also hat er Besuche immer vorher angekündigt. Nur einmal war er gerade in der Gegend und hat uns spontan besucht. Sie wollte ihn rauszerren, aber er war durch das Training viel stärker und geschickter. Er hat die Tür aufgestoßen.«

Er deutet auf das Geschäft, ehe er fortsetzt. »Es ist nur einmal passiert. Ein einziges Mal. An dem Tag, an dem Caleb kam. Dann hat er diese alte Frau von mir weggezogen. Wir reden nicht darüber, schon gar nicht über diesen Tag, aber er schaut mich immer mit derselben Mischung an. Ich erkenne Ekel, wenn ich ihn sehe. Er verachtet mich insgeheim für meine Schwäche, genau wie ich.«

»Das glaube ich nicht«, protestiere ich sofort. Sein Bruder würde ihn deswegen nicht verurteilen, da bin ich mir sicher. Ich verstehe ihn allerdings. Ich kenne das Gefühl, den eigenen Hass auf sich auch auf andere zu projizieren.

»Es ist aber die Wahrheit. Das ist einfach diese eine Seite an mir, die niemand lieben kann. Weil sie befleckt ist.«

Ich schüttle heftig den Kopf, schlinge die Arme fest um seine Taille und drücke ihn ganz dicht an mich, sodass sein Herzschlag meine Ohren anfüllt. Sein Herz und mein Herz schlagen im selben Takt.

»Schau mich an«, fordere ich und nehme sein Gesicht in beide Hände.

»Ich liebe alles an dir. Jeden noch so kleinen Teil, hast du das verstanden?«

Seine Augen werden groß. Überrascht stottert er: »Was? Hast du gerade... Kannst du das nochmal sagen, einfach weil...«

»Ich bin in dich verliebt«, sage ich feierlich, ein breites Grinsen liegt mir auf den Lippen. Ich liebe dich kommt mir noch zu früh vor, zumal ... Zumal Paige Lopez nicht existiert. Sollte ich diese Worte jemals aussprechen, möchte ich, dass ich ich bin. Keine Lüge, kein Phantom, sondern ich.

»Sag es noch einmal.«

»Ich bin in dich verliebt.«

»Noch mal.«

»Ich bin in dich verliebt.«

Er lächelt warm und mein Herz hopst freudig auf und ab.

»Noch mal.«

»Himmel, ich bin in dich verliebt, Ace.«

Ganz fest drückt er sich an mich, hebt mit zitternden Fingern mein Kinn hoch. Das Blut rauscht mir in den Ohren, pures Adrenalin pulsiert in meinen Adern.

»Ich auch in dich. Mit jeder Faser meines Körpers, ich habe mich in dich verliebt.« Dann küsst er mich. Seine verführerisch heißen Lippen hinterlassen brennende Küsse auf meinem Hals, dann auf meinen Wangen. Er küsst erst die Rechte, die Linke. Meine Stirn, dann, endlich, treffen sich unsere Lippen. Er fährt mit beiden Händen durch meine Haare, sein Mund ist weich und warm und verheißungsvoll. Meine Lippen öffnen sich, unsere Zungen verschmelzen miteinander.

Jedes Mal, wenn seine Lippen auf meine Treffen, kribbelt es in mir wie ein elektrischer Strom. Er packt mich bei den Hüften und presst seine Lippen ganz fest auf meine. »In dich, in jeden Teil von dir«, murmelt er und ich stöhne leise auf. Meine Hände sind überall, in seinen Haaren, auf seinem Gesicht, an seiner Brust. So ein Glücksgefühl habe ich noch nie erlebt. Unsere Körper fügen sich ineinander wie zwei Puzzleteile. Gemeinsam lassen wir die Vergangenheit hinter uns und treten der Zukunft Hand in Hand entgegen. Finstere Erinnerungen haften an diesem Ort. Doch Ace und ich schaffen einfach neue. Erinnerungen, die wir wie Juwelen an unserem Körper tragen, über unserem Herzen.

Und in dem Moment weiß ich es: Ich werde alles dafür tun, zu bleiben. Lieber sterbe ich, als New York zu verlassen.

I LIE TO YOUWhere stories live. Discover now