Aber ich bin zu überwältigt von der Erleichterung, die die Wut und Verzweiflung beinahe mühelos wegspült. »Du kannst vergessen, dass ich dich jemals wieder loslasse«, murmle ich ihr ins Ohr. Sie schluchzt leise. »Es tut mir so leid.«

Ich streiche ihr nur tröstend über den Rücken. »Alles wird gut.«

Sie presst sich noch näher an mich, als würde ihr Leben davon abhängen. Was mich nicht im Geringsten stört.

»Ich dachte, du hasst mich.«

Ich ziehe sie noch fester an mich, jetzt trennt uns auch wirklich nichts mehr, wir verschmelzen fast miteinander.

»Ich hasse dich nicht, Paige, habe ich auch nie. Ich war vielleicht enttäuscht und wütend. Aber ich habe dich nie gehasst, hörst du? Keine Sekunde.«

Ich spüre, wie sie erleichtert aufatmet. »Niemals, merk dir das. Schreib es dir hinter die Ohren oder tätowier es dir auf den Arm; Ich könnt dich niemals hassen.«

»Ich dich auch nicht.« Sie schlingt ihre Arme um meinen Hals. Ich spüre die Wärme ihres Körpers an meinem und vergesse für einen Moment alles um uns herum. Sie riecht nach Seife und Zitrone und ihrem körpereigenen Geruch, der mich um den Verstand bringt. Schließlich lösen wir uns voneinander. »Warum bist du nicht gleich mit den anderen rausgegangen, Paige? Du... Du hättest da drin sterben können, verdammt.« Ich lehne meine Stirn an ihre. Sie schaut betreten nach unten.

»Ich habe jemanden gesehen.« Sie beginnt wieder zu zittern, als würde sich wieder eine Panikattacke ankündigen. Ich halte sie fest. »Wen? Mr. Onden? Gut, wenn das so ist, hätte ich mich auch versteckt.« Sie wirft mir einen strafenden Blick zu, doch ein leichtes Lächeln liegt auf ihren Lippen.

»Ich glaube... Ich glaube, ich habe meinen Onkel gesehen.«

Fragend schaue ich sie an. »Was ist denn daran so schlimm?«

Eine Weile sagt sie nichts und weicht auch meinem Blick aus. Ihre Augen sind geschlossen.

»Er sollte eigentlich im Gefängnis sitzen.«

»Warum?«, frage ich prompt. Quälend langsam schlägt sie die Augen auf, doch als sich unsere Blicke endlich wieder treffen, stockt mir der Atem. Ihre Pupillen sind geweitet, ihr Blick ist sanft und voller Schmerz. Ich habe sie schon in den verschiedensten Emotionen erlebt. Traurig, verletzt, wütend und von oben herab, wenn auch nur, um sich selber zu schützen. Aber das hier ist mehr als das. Sie wirkt völlig hilflos.

»Er ist ein Arsch, ein bisschen liegen geblieben. War er schon immer. Du weißt schon, nicht gerade gutaussehend und ganz anders, als seine Eltern erhofft haben, immerhin haben sie so viel Liebe in ihn gesteckt. Er hat meinen Vater für seinen Erfolg gehasst, dafür, dass er der heimliche Star der Familie war. Mein Onkel war das strahlende Feuer, das den dunklen Tunnel erleuchten sollte, in dem sie sich befanden. Mein Dad sollte die Asche sein, das Fundament des Friedhofs, auf dem sie ihr altes Leben begraben hätten. Trotzdem war er es, der aus der Asche nach den Sternen griff, nicht mein Onkel. Er war vom Neid völlig zerfressen, und immer, wenn er bei uns war, hat er nach einem Ventil gesucht.«

Bevor sie den letzten Satz ausspricht, holt sie rasselnd Luft. Als müsste sie all ihre Kraft zusammensammeln, um sie unfallfrei über die Lippen zu bringen. Die unheilvollen Worte, die sie daraufhin ausspricht.

»Dieses Ventil war ich.«

Ihre Stimme ist nicht viel mehr als ein leises Flüstern, dass fast von dem panischen Geschnatter unserer Umgebung übertönt wird. Ihre Kiefermuskeln spannen sich an, und sie wendet den Kopf zur Seite. Ich sehe ihr die Anstrengung förmlich an, als sie die Kraft sammelt, um weitersprechen zu können. Sie ringt sich die Worte ab, mit denen ich nie im Leben gerechnet hätte. Nicht bei ihr. Sie soll nicht auch so etwas durchgemacht haben müssen.

»Er sitzt wegen Kindesmissbrauch.«

Dieses eine Wort lässt mir das Blut in den Adern gefrieren, sofort ziehe ich meine Hände weg, als hätte ich mich verbrannt. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Es tut so weh, diese Worte zu hören. Bittere Galle sammelt sich in meiner Kehle, Erinnerung stürzen auf mich ein. Ich schüttle sie ab, ich will mich voll und ganz auf Paige konzentrieren. Es geht jetzt mal nicht um mich.

»Jahrelang ging es so. An meinem Geburtstag und an Weihnachten, wenn die ganze Familie versammelt war. Als ich elf war, hat Mom ihn erwischt. Sie hat dafür gesorgt, dass die Höchststrafe verhängt wird, zehn Jahre.« Ein bitteres Lachen entweicht ihrer Kehle. Zehn Jahre sind lächerlich, für das, was sie erdulden musste.

Es ist so ungerecht, dass für so eine schlimme Tat nur eine derart geringe Strafe verhängt wird. Und ich weiß genau, was sie meint. Wie ungerecht die Welt manchmal ist.

»Er hätte nicht hier sein dürfen, verstehst du? Er müsste noch im Gefängnis sitzen!«

»Vielleicht war es ja auch gar nicht. Immerhin hast du ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Sie antwortet nicht, sondern fixiert drei schwarz gekleidete Männer auf dem Schulparkplatz. Sie lächelt und wendet sich wieder mir zu.

»Oh, guck mal da«, sage ich und zeige auf Mr. Onden, der stürmisch von einer blonden Lehrerin umarmt wird. Wie sie heißt, weiß ich gar nicht, vermutlich ist sie ebenfalls neu.

»Ich finde es ja gut, dass dieser Kerl sich wieder an Gleichaltrigen orientiert, gut für mich, aber ich würde niemals mit einer Kollegin rummachen.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch, zufrieden stelle ich fest, dass sie kein bisschen eifersüchtig aussieht. Ich könnte platzen vor Glück.

»Irgendwie schon, oder? Und wenn man sich trennt, kann man sich auch gleich einen neuen Job suchen, die Arbeitsatmosphäre ist ja völlig im Eimer.«

Ich nicke resignierend. Notiz an mich: Niemals da arbeiten, wo Paige arbeitet.

»Wobei er schon ziemlich dämlich ist, dich für so eine Frau loszulassen. Aber hey, ich will mich nicht beschweren.«

Schelmisch grinsend schaue ich zu ihr. Sie wirft mir ein zufriedenes Lächeln zu.

»Tja, nicht jeder kommt mit dieser Perfektion klar«, sagt sie gespielt großspurig und fächelt sich übertrieben theatralisch Luft zu, so, dass sie in dieser Hinsicht Lady Macbeth in puncto Melodramatik locker überbieten kann.

»Schon irgendwie dämlich, nicht? Vor ein paar Minuten offenbare ich dir meine hässliche, befleckte Seite, und wenig später sage ich, dass ich perfekt bin.«

Ich streiche ihr ein paar wirre Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Augen glänzen, ihre Lippen leuchten in dem typischen verführerischen Rot. »Für mich bist du vielleicht nicht perfekt, und vielleicht bist du auch nicht der Mittelpunkt Welt, aber du bist Alles, was meine Welt perfekt macht.«

Innerlich rümpfe ich die Nase über dieses kitschige Gerede. An ihrer Stelle würde ich jetzt schreiend wegrennen. Aber sie bleibt.

»In meinem Kopf klang das irgendwie schöner.« Peinlich berührt beiße ich mir auf die Unterlippe.

Sie lacht nur leise. »Das waren mit Abstand die schönsten Worte, die jemals jemand zu mir gesagt hatte. Noch schöner als: Der Unterricht ist jetzt beendet.«

Ich lächle schief. Mit dem Daumen streiche ich in beruhigenden Kreisen über ihre Hüfte. »Ich möchte dich jetzt küssen.«

Sie erwidert mein Lächeln. »Tu es endlich.« Bebend vor Erwartung streicht ihr Atem über meine Wange. Ohne zu zögern nehme ich ihr Gesicht in beide Hände und drücke meine Lippen fest auf ihre. Es ist genauso wie gestern, wenn nicht noch besser, weil der Kuss dieses Mal drängender ist, leidenschaftlicher. Immer wieder küsse ich sie, ich kann hören, wie sie leise seufzt. Mein Puls schnellt in die Höhe, mein Herz schmerzt in meiner Brust, ich spüre eine angenehme Gänsehaut an meinem ganzen Körper und ihre Lippen auf meinen. Voll und feucht und fordernd.

Aufgeregtes Geschrei unterbricht uns. Wir lösen uns voneinander und schauen in die Richtung, von der das Geräusch kommt. Paige reckt den Kopf in die Höhe, um etwas zu erkennen.

»Sie hat das Bewusstsein verloren!«, schreit jemand. Sanitäter laufen auf den Kreis zu, der sich um ein braunhaariges Mädchen gebildet hat. Und schlagartig höre ich einen verzweifelten Aufschrei. Josh.

Und das blutüberströmte Mädchen, das am Boden liegt und gerade auf eine Trage gebettet wird, ist Lillian. Paige stößt ein herzzerreißendes Geräusch aus, flugs eilt sie auf die Menschenmenge zu.

I LIE TO YOUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt