»Hm, ich hatte schon gehofft, dass du nicht kommst«, neckt Paige mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, das im Gegenteil zu dem Gesagten steht.

»Ich bin es schon gewohnt, Leute zu enttäuschen«, platzt es aus mir heraus, ehe ich die Worte aufhalten kann.

Das habe ich nicht gerade ernsthaft gesagt. Ich hoffe, sie glaubt, dass das nur ein Scherz war. Tut sie nicht, denn ein dunkler Ausdruck tritt in ihr Gesicht. Sofort wende ich mich ab und hole meinen Block raus. Für morgendliche Gefühlsduseleien habe ich keine Zeit.

»Ich weiß was du meinst.«

Ich riskiere einen Blick in ihre Richtung und verharre an ihren knallroten Lippen.

»Warum hast du immer rote Lippen?«, frage ich wie von den Sinnen.

Das ist eine Sache, die ich mich schon die ganze Zeit frage, nahezu ständig.

»Rot ist meine Lieblingsfarbe«, antwortet sie trocken. Leuchtet ein. Sofort projiziert mein Gehirn das Bild von Paige in ihrer roten Regen-Ausrüstung und ich muss schmunzeln. Sie holt mich zurück in die Gegenwart, ins Hier und Jetzt, und fügt noch hinzu: »Es ist wie eine Kampfansage.«

Fragend schaue ich sie an. Eine stumme Aufforderung, näher darauf einzugehen. Sie tut es.

»Eine Warnung. Wie ein Verkehrsschild, die sind doch auch rot.«

Sie lacht leise auf und ich falle ebenfalls ein, in ein herzliches Gelächter. Aber wir lachen nicht, weil irgendwas sonderlich lustig war. Wir lachen, weil alle anderen Reaktionen auf die Wendung, die das Gespräch genommen hat, zu viel für uns und unseren jetzigen Stand wären. Zu viel. In zu kurzer Zeit. Wir sind nichts als zwei Studenten, die sich in einem Club geküsst haben und seitdem ... ja was eigentlich? Miteinander auskommen?

»Vielleicht hätte ich meine Lippen nicht unbedingt mit einem Verkehrsschild vergleichen sollen«, meint sie resignierend und bindet ihre rabenschwarzen Haarsträhnen zu einem Pferdeschwanz. »Jedenfalls, Rot steht für Leidenschaft und Feuer. Das passt zu mir. Und außerdem ist meine zweite Lieblingsfarbe dunkelblau, aber ich kann mir meine Lippen schlecht dunkelblau anmalen.«

»Möglich wäre es. Dann hättest du eindeutig ein Wiedererkennungsmerkmal.«

Sie kichert leise.

»Das wäre ein toller Buchtitel, findest du nicht? Das Mädchen mit den blauen Lippen.«

»Mit den dunkelblauen Lippen«, verbessere ich sie aus Spaß und denke weiter über den Titel nach. Blau ist kalt, eisig und so tief wie ein See, auf dessen Grund du hinabgezogen wirst, um zu ertrinken. »Klingt aber traurig. Lippen laufen auch bei Kälte blau an, das passt irgendwie nicht zu dir.«

»Vielleicht ja doch«, flüstert sie so leise, dass ich es fast nicht höre, bei dem Lärm um uns herum. Aber nur fast. Erschrocken öffnet sie den Mund, als hätte sie etwas Verbotenes gesagt, etwas, das sie nicht preisgeben wollte. »Das habe ich nie gesagt«, schiebt sie hinterher. Danach würdigt sie mich meines Blickes mehr. Risse in der Fassade.

. . .

»Du willst bestimmt wissen, ob wir Sport überlebt haben, oder?«, fragt Henry und kichert, wie ein pubertierender Teenager. Der er tief im Herzen auch immer bleiben würde.

Elian sitzt auf seinem Schoß und ignoriert gekonnt die verstohlenen Blicke der anderen, die auf ihnen ruhen. Teils einfach nur forsch, teils missbilligend und angewidert. Zum Teufel mit diesen Idioten. Die Cafeteria ist rappelvoll, von überall dringt Gelächter in meine Ohren. Josh hebt einen Daumen, vermutlich als Zustimmung und schaut sie erwartungsvoll an.

»Also, dieses Mal haben wir eine Diskussion geführt. Es ging vor allem darum, ob es in Ordnung wäre, als homosexueller politisch mitzuwirken. Das war natürlich eine Provokationsfrage; natürlich ist es möglich. Im 21. Jahrhundert sollte jemand, der damit noch ein Problem hat, vielleicht Mal ein Systemupdate durchführen.«

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