Müde bin ich trotzdem nicht. Als ich und Apartment kam, wollte ich nur noch schlafen. Jetzt kriege ich kein Auge zu. Seufzend gehe ich zu meiner Kommode und nehme mir die hölzerne Schmuckschatulle. Dann setze ich mich auf mein Bett. Es ist ein seltsames Monstrum, bestehend aus gewaltigen Bettpfosten, einer hohen Matratze, in der ich versinken könnte und einem Meer aus Kissen.

Zärtlich streiche ich über die aufgemalten Rosenranken meiner Schatulle. Die Farbe ist schon ziemlich abgeblättert, aber ich möchte, dass sie so bleibt, wie sie ist. Mom hatte die Ranken früher einmal raufgemalt, genauso wie sie mir die Schatulle geschenkt hat.

Allerdings bewahre ich dort nicht nur meinen Schmuck auf. Ich hole die Ketten und Armbänder heraus und lege sie neben mich. Die glitzernden Rubine und die funkelnden Diamanten haben für mich keinen Wert, im Vergleich zu dem, was sich darunter befindet. Vorsichtig löse ich den Boden. Zum Vorschein kommt ein Hohlraum, in dem mein Tagebuch liegt.

Mein wahrer Schatz. Meine alten Tagebücher sind versteckt in alten Schuhkartons, die in meinem Ankleidezimmer stehen.

Als Mom mir mein erstes Tagebuch geschenkt hat, hat sie mir gesagt, ich solle es in der Schatulle aufbewahren. Irgendwann ist dieses Buch voll beschrieben gewesen, aber dennoch halte ich an diesem unbedeutenden Detail fest. Das Tagebuch, in das ich gerade schreibe, wird immer darin aufbewahrt.

Ich laufe zum Schreibtisch um mir noch einen Stift zu holen, der passt nämlich nicht mehr in die Schatulle. Dann beginne ich zu schreiben. Die Worte fließen aus mir heraus, Gedanken warten darauf, endlich auf Papier festgehalten zu werden. Die Tinte, die federleicht aus dem Stift entgleitet, ist wie die Flügel eines Vogels: so wie sie einen Vogel antreiben, treiben sie meine Gedanken an.

In diesem Tagebuch steht alles. Jede Sünde, jede gute Tat. Alles, was die Gesellschaft in schwarz und weiß teilen würde. Und auch all die Grauzonen. Jeder, der diese Bücher hätte, könnte mich damit in Grund und Boden stampfen.

Dad hat immer gesagt, man solle nie etwas zurücklassen, alle Spuren verwischen. Wenn er wüsste, dass ich Tagebuch schreibe, würde er mir den Kopf abreißen. Und wenn er auch noch wüsste, was in ihnen steht ...

Aber es ist, als würde mir jemand zuhören, mir wirklich zuhören. Als könnten die niedergeschriebenen Worte auf diese Weise zu Mom geleiten, durch die Himmelspforten zu ihr kommen und von ihren gutmütigen Augen gelesen werden. Es ist die einzige Verbindung, die mir noch bleibt.

In diesem Buch stehen so viele ungesagte Dinge, meine tiefsten Ängste und alles was mich ausmacht.

Als ich fertig bin, lege ich das Buch wieder an seinen Platz zurück, schiebe die dünne Holzwand rüber und lege den Schmuck hinein.

Dann knipse ich mein Nachtlicht aus und krabble in mein weiches Bett. Allerdings schwirren meine Gedanken in meinen Kopf wie Bienen um eine Blume. Zwar wurde das Summen durch meinen heutigen Eintrag leiser und klingt jetzt weiter weg. Aber es hindert mich dennoch am Schlafen.

Braxton hat nicht verstanden, warum ich diese Aufmerksamkeit auf meine eigene, verquerte Weise brauche. Dabei ist es so offensichtlich. Ich muss mich ständig verstecken, kann niemals ich selbst sein, kann niemanden vertrauen, niemanden lieben. Denn ich habe schon in jungen Jahren am eigenen Leib erfahren, wie es ist, jemanden zu lieben. Am Ende verliert man die Person.

Und sich selbst.

Wenn der eigene Vater nie da ist, man keine Mutter hat, und die einzige Konstante im Leben ein verdammter Leibwächter ist, dessen Job es ist, auf dich aufzupassen, und dem du rein gar nichts bedeutest, brauchst du einfach Aufmerksamkeit.

Mag sein, dass es keine schöne Eigenschaft ist. Sicherlich nicht.

Aber hat nicht jeder Mensch auch ein hässliches Gesicht? Einen Teil, den er niemanden zeigen möchte?

Wenn ich schon niemanden habe, hole ich mir die Bestätigung bei jemand anderem. Von Typen, die ich küsse, von Blicken, die ich auf mich ziehe.

Wenn ich mein wahres Ich schon hinter falschen Identitäten verstecken muss, erfinde ich mich eben immer wieder neu. Und kann so auf unendlich viele Arten leben. Braxtons Aussage hat mich getroffen. Und noch mehr trifft es mich, dass er keine Zeit mehr hat. Früher wären wir gemeinsam als Studenten an die NYU gegangen.

Aber die Brandnarben lassen ihn um einiges älter aussehen, deswegen ist er jetzt ein Professor. Anscheinend. Was im Umkehrschluss aber nur bedeutet, dass ich noch mehr auf mich alleine gestellt bin. Ich kann jetzt nicht einfach mit Braxton durch die Straßen spazieren. Wenn wir gesehen werden, würde das nur unnötigen Ärger produzieren. Immerhin bin ich jetzt seine Studentin.

Diese ganze Situation ist zum Haare raufen! Mein Handy klingelt und ich stöhne entnervt auf. Ich greife danach, um zu gucken, welcher Blödmann es wagt, mich beim Schlafen zu stören. Wobei, ich habe mir ja sowieso nur den Kopf zerbrochen und mich selber bemitleidet.

Eine unbekannte Nummer. Mein Puls schnellt augenblicklich in die Höhe.

Unbekannt:
Na Süße, gut nach Hause gekommen? Beim nächsten Mal fahre ich dich ;)

Mir bricht der Schweiß aus. Sofort frage ich mich, ob es einer von Dads Feinden ist. Ob sie mich holen kommen. Ob es die gleichen Männer sind, die Mom getötet haben, in jener Nacht.

Du:
Wer bist du überhaupt?

Ich zittere. Meine Nerven liegen entblößt auf einer Fallschwertmaschine und warten nur noch auf ihr vernichtendes Urteil.

Unbekannt:
Dein Zukünftiger ;)

Was zum Teufel?

Unbekannt:
Spaß, Brian hier.

Unbekannt:
Muss die ganze Zeit an dich denken.

Unbekannt:
An deine roten Lippen.

Ich bin so unglaublich erleichtert. Zwar ist das alles andere als normal, immerhin haben wir nur ein oberflächliches Gespräch auf der Party geführt. Bei der einen Hälfte habe ich ihm nicht einmal zugehört. Wie kommt er dazu, mir sowas gruselige, Stalker-mäßiges und einfach nur erschreckendes zu schicken?

Er hat mir gehörig Angst eingejagt.

Ich beschließe, ihm nicht zu antworten. Er müsste bald an den Punkt kommen, an dem er realisiert, dass ich nicht mehr antworten werde, und aufgeben. Hoffentlich. Wie naiv. Wenn ich ihm jetzt nämlich zurückschreiben würde, werde ich heute Nacht gar nicht mehr schlafen können. Seufzend lege ich mein Handy beiseite und schlüpfe unter meine etwas kühle Bettdecke. So ist es zum Schlafen am besten. Besonders weil es in New York im Sommer verdammt heiß ist.

Schon nach kurzer Zeit dämmere ich weg und träume zum ersten Mal seit Jahren von einem hämisch grinsenden Gesicht. Ich kenne die Person nur zu gut. Ich will schreien.

Doch in meinen Träumen sind meine Schreie nichts als stumm.

I LIE TO YOUWhere stories live. Discover now